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Macmillans Brückensdilag

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„Es ist uns niemals besser gegangen als jetzt!“ Dieses stolze Wort des Premierministers wird vielen Mitgliedern des House of Commons noch sehr deutlich im Ohr geklungen haben, als wenige Wochen später, am 25. Juli, der Schatzkanzler im Kabinett desselben Regierungschefs das Gespenst eines völligen Zusammenbruchs der Währung und der Wirtschaft Großbritanniens vor versammeltem Parlament an die Wand malte. Ein scheinbar unlösbarer Widerspruch zweier Darlegungen, die aber, richtig verstanden, einander ergänzen. Vor dreißig Jahren hätte sich niemand die seither eingetretene Erhöhung des allgemeinen Lebensstandards und den Grad des Wohlstands erträumt, den die breiten Schichten der Lohn- und Gehaltsempfänger binnen einem Menschenalter auf den übervölkerten, an Naturschätzen armen britischen Inseln erreicht haben. Aber dieser Aufstieg, den Macmillan mit der zitierten Äußerung in Erinnerung bringen wollte, ist zu einem großen Teil auf Kosten der nationalen Vermögenssubstanz erfolgt, und in einem Tempo, welches das Wachstum des nationalen Einkommens weit überflügelt hat.

Chronische Schwächeanfälle des Pfunds

Das hat jetzt, und keineswegs zum erstenmal, zu einer Krise geführt, die, wie Schatzkanzler Lloyd in seiner Rede am 25. Juli klarzumachen versucht hat, einschneidende Maßnahmen zur Sanierung der Währungs- und Wirtschaftslage unvermeidlich machte. Vielleicht hätte Lloyd zur Unterstützung seiner Argumente gut getan, auf die Entwicklung der britischen Staatsschuld hinzuweisen, die vor Ausbruch des ersten Weltkrieges 651 Millionen Pfund betragen hatte und bis 1919 auf 7,4 Milliarden angewachsen war, um sich in den Jahren zwischen 1939 und 1946 von 7,1 Milliarden auf 23,6 Milliarden Pfund zu erhöhen und bis zum 31. März 1960 um weitere 4,1 Milliarden, davon rund zwej .Milliarden, die in amerikanischer oder kanadischer Währung rückzahlbar waren, anzuwachsen. Damit hätte er die Notwendigkeit noch einleuchtender gemacht, die immer wieder von Schwächeanfällen heimgesuchte Sterlingwährung durch Beseitigung des chronischen Defizits in der Zahlungsbilanz auf eine gesunde Grundlage zu stellen und den Bedarf an „Injektionen“, wie etwa jetzt wieder in Form einer Zwei-Milliarden-Dollar-Anleihe beim Internationalen Währungsfonds, aus der Welt zu schaffen. Immerhin, sein Vorhaben, den Fehlbetrag in der Zwischenbilanz, den er für das laufende Finanzjahr mit rund 200 Millionen Pfund berechnet, durch erhöhte Ausfuhren wettzumachen und auf diese Weise Einfuhrbeschränkungen und ein allmähliches Absinken des britischen Lebensstandards zu vermeiden, ist im allgemeinen mit Zustimmung aufgenommen worden; was nicht von der Wahl der Mittel gesagt werden kann, mit denen er dieses Ziel erreichen will. Daß die Verteuerung des Geldes durch das Hinaufsetzen der Bankrate auf sieben Prozent spekulative Investitionen und namentlich die stark überhitzte Baukonjunktur abbremsen wird und es dadurch der Industrie erleichtern kann, sich Arbeitskräfte und Kapitalzuschüsse zu beschaffen, wird wenig bestritten.

Um so mehr wird die Frage aufgeworfen, ob die verfügte massive Erhöhung der Umsatz- und anderer Steuern und Abgaben wirklich geeignet ist, erheblich mehr Güter nicht nur für den Export verfügbar zu machen, sondern tatsächlich zur Ausfuhr zu bringen, oder ob diese Maßnahme nicht im Gegenteil durch die resultierende Erhöhung der Lebenshaltungskosten zu einer weiteren Verteuerung der Produktion und damit zu einem neuen Hindernis für die gebotene Ausweitung des Exporthandels führen wird. Jedenfalls hat schon eine ganze Reihe von Gewerkschaften mehr oder weniger offen zu verstehen gegeben, daß sie nicht daran denke, sich in ihrer Lohnpolitik durch den von der Regierung proklamierten — und der Lehrerschaft gegenüber in ausgesprochen kleinlicher Weise jetzt durchgeführten — Lohnstop beeinflussen zu lassen; ein schlechtes Vorzeichen für das Gelingen des an sich sehr ver nünftigen Projekts, zu Beginn eines jeden Jahres solle eine aus Vertretern der Regierung, der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerschaft zusammengesetzte Kommission die Grenze feststellen, bis zu welcher Lohn- oder Gehaltserhöhungen bewilligt werden können, ohne den bis Jahresende zu erwartenden Zuwachs an nationalem Einkommen zu überflügeln, und damit, was Selwyn Lloyd eben unter allen Umständen verhindern will, der Geldentwertung einen neuen Anstoß zu geben.

Eine konservative „Austerity“

Es bedurfte natürlich nicht der wielerholten Erklärung Macmillans, daß ler Schatzkanzler sein volles Vertrauen genieße, um den Schock, den Lloyd mit seinem wohl überwiegend als ungenügend durchdacht empfun- ienen „Austerityplan“ ausgelöst hatte, licht auch gegen die Gesamtregierung und namentlich ihren Führer irgendwie wirksam werden zu lassen. Noch or einem Jahr wäre das kaum der Fall gewesen, aber das hohe Ansehen — das Wort Beliebtheit wäre lier vielleicht weniger am Platz — welches Harold Macmillan sehr bald lach Übernahme seines Amtes zu gewinnen vermochte, hat sich allmäh- ich, und ohne daß bestimmte Tatsachen zur Erklärung zu nennen wären, ein wenig abgenützt; nicht in lern Maß freilich, wie es die Labour- Führer, die bereits wieder von einer Rückkehr zur Macht zu träumen leginnen, gerne wahrhaben möchten, iber doch hinreichend, um die Partei- lisziplin der Konservativen mitunter luf eine harte Probe zu stellen. Nun st dem Premierminister ein verläß- iches Fingerspitzengefühl für die Stimmung in der Partei und im Land loch nie abgesprochen worden, man larf daher annehmen, daß er sehr gewichtige Gründe gehabt haben muß, im nicht einmal eine Woche nach ie- ler ominösen Rede des Schatzkanzlers erstreichen zu lassen, ehe er dem Vertrauert der , Nation in seinen Weitblick und seine Zielsicherheit eine neue und noch schwerere Belastung auferlegte — mit der Bekanntgabe des „nach langer und ernster Überlegung" gefaßten Beschlusses seiner Regierung, offizielle Verhandlungen behufs eines Beitritts Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aufzunehmen.

Es ist noch nicht sehr lange her, daß Premier Macmillan einen solchen Schritt als geradezu unvorstellbar bezeichnete. Wenn er ihn nun doch unternommen hat, so zweifellos vor allem in der durch die jüngste Pfundkrise neuerdings bestätigten Erkenntnis, daß Großbritannien auf sich allein gestellt nicht mehr über die wirtschaftliche Potenz verfügt, um seine frühere führende Rolle in der Welt und im Commonwealth weiter zu spielen. Er mußte sich freilich sagen, daß seine Regierung angesicht der finanziellen Bedrängnis des Landes nicht in der besten Position sei, um Beitrittsgespräche mit der EWG zu beginnen; aber entscheidend schien ihm wohl die Erwägung, daß die Nation nur in einem Augenblick akuter wirtschaftlicher Bedrängnis für eine Unterwerfung unter fremden Willen, wie sie sich eben aus der Zugehörigkeit zur EWG ergeben würde, gewonnen werden könnte, und ferner, daß die Bedingungen des Beitritts sich für Großbritannien durch noch längeres Zuwarten nicht verbessern, sondern wahrscheinlich verschlechtern würden. Allerdings, auf welcher Basis — denn natürlich würde auch die EWG ihre Bedingungen stellen — man sich schließlich, wie die britischen „Europäer“ hoffen, einigen würde, darüber bestehen in der britischen Öffentlichkeit nur sehr vage Vorstellungen, und selbst in Downing Street vermutlich kein völlig klares Konzept, wenn man hier auch kaum in die Illusion verfallen sein dürfte, daß der Beitritt zur Gemeinschaft der Sechs ein automatisch und schmerzlos wirkendes Heilmittel für alle wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Nöte des Vereinigten Königreichs bedeuten würde. Vielmehr wird sich, wie man annehmen darf, niemand so deutlich wie der Premierminister Macmillan selbst dessen bewußt sein, daß eine lange, vielleicht jahrelange Zeit schwieriger und für manche Industrien opferreicher Anpassung verstreichen muß, bevor die britische Wirtschaft aus den ins Lln- übersehbare gesteigerten Möglichkeiten eines vielfach vergrößerten Marktes den vollen Nutzen ziehen kann.

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