Ärmelkanal Flüchtlinge - © Foto: Getty Images / Gareth Fuller/PA Images

Mangel, Schikane und Gewalt

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Unter Transit-Migranten in Nordfrankreich blieb der befürchtete Covid-Ausbruch bislang weitgehend aus. Dennoch hat der Lockdown ihre Lage massiv erschwert. Die Zahl der Bootsüberfahrten nach England steigt derweil auf Rekordhöhe.

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Unter Transit-Migranten in Nordfrankreich blieb der befürchtete Covid-Ausbruch bislang weitgehend aus. Dennoch hat der Lockdown ihre Lage massiv erschwert. Die Zahl der Bootsüberfahrten nach England steigt derweil auf Rekordhöhe.

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Was die Anzahl aktiver Corona-Fälle betrifft, liegt Frankreich in Europa derzeit mit an der Spitze. Das gleiche gilt für Personen mit kritischem Krankheitsverlauf. Eines der großen Schreckens-Szenarien zu Beginn der Krise hat sich jedoch nicht bewahrheitet: ein unkontrollierbarer Ausbruch in den provisorischen Camps Geflüchteter am Ärmelkanal, in denen es an allem mangelt – außer, notgedrungen, physischer Nähe.

Insgesamt etwa 1500 Personen harren dort in Zelten aus, um hinüber nach England zu gelangen. Nach fünf Covid-19-Fällen im April, die inzwischen geheilt sind, wurden keine neuen Ansteckungen bekannt. In französischen Medien spielen die Camps an den Rändern von Calais und Dunkerque aktuell daher keine wesentliche Rolle. Was freilich nicht bedeutet, dass der Lockdown der letzten zwei Monate die Bedingungen dort nicht massiv beeinflusst hat und dies weiterhin tut.

Vorweg: dass sanitäre und hygienische Zustände einer wirksamen Virus-Vorbeugung bei Weitem nicht genügen, ist offensichtlich. Schon zu Beginn der Krise kommentierte die lokale Abteilung der Hilfsorganisation Secours Catholique dies in einem Schreiben an Premierminister Édouard Philippe süffisant: „Um zu Hause zu bleiben, muss man ein Haus haben, in dem man bleiben kann.“

Helferzahl sinkt

Hinzu kommt, dass die Zahl der freiwilligen Helfer nicht zuletzt durch die Schließung der Grenzen deutlich gesunken ist. Wegen der Pandemie haben einige der internationalen Hilfsorganisationen ihre Aktivitäten vorübergehend gestoppt: Refugee Community Kitchen etwa, die in den letzten Jahren fast drei Millionen Mahlzeiten in den nordfranzösischen Camps verteilte, verkündete Ende März „schweren Herzens“, die Hilfe einzustellen – „aus wachsender Besorgnis um die Sicherheit unserer Freiwilligen und der Menschen, die wir bekochen.“

Die Organisation La vie active, die im behördlichen Auftrag Essen verteilt, beschränkt sich nun Corona-bedingt auf das Frühstück. Warme Mahlzeiten gibt sie nicht mehr aus. Die Versorgungslage wurde dadurch zunächst akut beeinflusst. Inzwischen gelingt es den verbliebenen lokalen Organisationen, die entstandenen Engpässe auszugleichen. Eine der am längsten vertretenen ist L´Auberge des Migrants. Deren Freiwillige verteilen nun jede Woche tausend Säcke mit Lebensmitteln zum Selberkochen an die Migranten.

Maya Konforti ist seit Jahren aktiv bei L´Auberge des Migrants. Sie berichtet der FURCHE, die lokalen Busse würden Geflüchtete aus Angst vor Infektionen nicht mehr transportieren. Dies schränke wiederum die Möglichkeit stark ein, im Notfall in das am Stadtrand gelegene Krankenhaus zu gelangen. Nach einem Deutsche-Welle-Bericht Anfang Mai verwehre auch ein Supermarkt in Calais den Camp-Bewohnern Zutritt. Das Management bestreite dies, wolle sich allerdings nicht weiter zum Thema äußern. Andere Freiwillige bestätigen den Bericht.

Es sind freilich diese Umstände, die illustrieren: Das Virus an sich ist in diesem Frühling des Notstands nicht einmal die größte Sorge der Transitmigranten am Ärmelkanal. Davon zeugt auch, dass nach offiziellen Angaben nur 290 Personen vom Angebot einer Quarantäne-Unterbringung in Sammel-Unterkünften in der Region Gebrauch machten. Wie die Aktivistin Maya Konforti berichtet, sind weitere hundert, die vorübergehend dort waren, inzwischen zurück an der Küste – weil es nur hier die Möglichkeit gibt, nach Großbritannien zu gelangen. Mit dem Ende des strikten französischen Lockdown in dieser Woche werden wohl auch die übrigen zurückkommen.

Was den Alltag in den mehr als notdürftigen Camps prägt, sind zwei Komponenten: zum einen die Räumungen, die seit August 2018 strukturell und jeden Tag stattfinden. Im Einzelnen bedeutet dies, dass jeder einzelne Standort alle 48 Stunden betroffen ist. „Währenddessen müssen die Menschen alle ihre Zelte und Besitztümer entfernen, manchmal nur zwei Meter, manchmal 500 Meter. Persönliche, grundlegende Gegenstände werden dabei häufig konfisziert oder zerstört“, berichtet Hannah Lindner, die für das Projekt Human Rights Observers die Lage vor Ort dokumentiert.

Groteske der Behörden

Im Jahr 2019 gab es 961 solcher Räumungen. Vom Beginn des „confinement“ Mitte März bis Anfang Mai waren es 135. Offensichtlich ist, dass dieses Vorgehen keinem anderen Zweck dient, als die behördlichen Vorgaben zu erfüllen, wonach jede auch nur halbwegs feste Ansiedlung von Transitmigranten zu verhindern ist – und sei es nur auf dem Papier, denn de facto halten die Betroffenen sich permanent dort auf. Diese tägliche Praxis unterstreicht einmal mehr den grotesken Charakter des Flüchtlingsdramas am Ärmelkanal. 2016, nach der Räumung des „Jungle“ von Calais, erklärten die Behörden das Thema für erledigt. Seit 2018 haben sich die Zahlen jedoch verdoppelt, und noch immer kommen neue Migranten hinzu.

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