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Marktwirtschaft und Menschenbild

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Der „Furche”, getreu ihrer Verpflichtung als Blatt des Dialoges, ist es eine besondere Freude, heute zum erstenmal auch den Ansichten eines Liberalen Raum zu geben. Der Autor, aus einer berühmten österreichischen Juristenfamilie stammend, als Professor an der juridischen Fakultät der Universität Salzburg tätig, hatte einst seine Habilitationsschrift „Locatio conductio” im Verlag Herold veröffentlicht.

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Der „Furche”, getreu ihrer Verpflichtung als Blatt des Dialoges, ist es eine besondere Freude, heute zum erstenmal auch den Ansichten eines Liberalen Raum zu geben. Der Autor, aus einer berühmten österreichischen Juristenfamilie stammend, als Professor an der juridischen Fakultät der Universität Salzburg tätig, hatte einst seine Habilitationsschrift „Locatio conductio” im Verlag Herold veröffentlicht.

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Für Marktwirtschaft zu sein, ist populär; Liberalismus dagegen gilt vielen als antiquiert und widerlegt, bei anderen weckt er Unbehagen und Verdacht. Die Schizophrenie der Diktion liegt auf der Hand: Ein und dasselbe Konzept wird bejaht, wenn man das eine Vokabel gebraucht, und verneint, wenn man sich des anderen bedient.

Marktwirtschaft und Liberalismus sind freilich nicht ein und dasselbe. Dies liegt an der über das Wirtschaftliche hinausreichenden Dimension des Liberalismus, nicht aber daran, daß es auch eine nicht liberal konzipierte Marktwirtschaft gäbe. Staaten mit Einparteiensystem haben zwar immer wieder versucht, Elemente marktwirtschaftlicher Technik in ihre Wirtschaftsverfassung einzubauen, um so von der Leistungskraft der Marktwirtschaft zu profitieren. Bleibender Erfolg war keinem von diesen Versuchen beschie- den. Die Marktwirtschaft stellt nicht eine in beliebige Zusammenhänge verpflanzbare Technik dar. Sie kann von den jenseits des ökonomischen liegenden Elementen des Liberalismus nicht völlig getrennt werden. Man kann daher nicht für Marktwirtschaft sein und sich vom Liberalismus distanzieren. Die Auseinandersetzung mit dem liberalen Gedanken würde verkürzt, wollte man sie auf die Frage beschränken, was ein „Wirtschaftsliberalismus” in Österreichs konkreter Situation für das Land leisten kann. Es muß vielmehr nach dem vollen Gehalt des liberalen Gedankens gefragt werden.

Was heißt es, liberal zu denken?

Mehrere eingebürgerte Mißverständnisse müssen ausgeräumt werden, ehe diese Frage sinnvoll beantwortet werden kann. Das primitivste, aber wohl häufigste dieser Mißverständnisse ist die Gleichsetzung von „liberal” und „national”. Vordergründig beruht es auf der österreichischen Parteikonstellation, seine historische Wurzel aber hat es in jener Konvergenz nationaler und liberaler Zielsetzungen, die dem 19. Jahrhundert und insbesondere dem Jahre 1848 das Gepräge gab. Trotz solch temporärer Konvergenz bestehen aber handfeste Unterschiede: Es mag genügen, auf den Rang hinzuweisen, der dem Gedanken der Toleranz eingeräumt wird. Dabei kommt es gar nicht darauf an, welche Nation ein nationales Denken meint: Immer wird es die Toleranz stärker zurückstellen als liberales Deiikeh.

Es wäre aber auch falsch, „liberal” mit „antiklerikal” gleichzusetzen. Wiederum gilt es, die Überbewertung einer bloß temporären Konstellation zu korrigieren. Ähnlich wie im Verhältnis zwischen Kirche und Sozialdemokratie liegt, wie wir heute wissen, eine Unvereinbarkeit von Grundsätzen viel seltener vor, als man zunächst annahm. Die Kirchenfeindlichkeit vieler Liberaler des 19. Jahrhunderts hat für den sich mit liberalen Gedanken auseinandersetzenden Katholiken nicht mehr Aussagewert als Bebels Haltung zum Christentum für das heutige Verhältnis zwischen Kirche und demokratischem Sozialismus.

Die Frage, ob „liberal” nicht mit „kapitalistisch” oder „unsozial” gleichgesetzt werden müsse, führt uns von der bloßen Beseitigung von Mißverständnissen über die Bedeutung von „liberal” zum Versuch, diese zu bezeichnen. Zugleich kommen wir so dazu, die außerökonomischen Elemente des liberalen Gedankens aufzuzeigen.

Entscheidung dieser Frage wird versuchen müssen, die Bildung von Übermacht durch Kartelle zu unterbinden, ohne den Ausgleich von Marktmacht durch aus Kartellbildung entstehender Gegenmacht zu verhindern.

Während die Bedeutung der Kräfteverhältnisse für die Funktion eines Marktes immer öfter gesehen wird, fehlt es an entsprechender Beachtung der in der Voraussetzung eines Menschenbildes liegenden außerökonomischen Komponente des liberalen Denkens. Dies mag daran liegen, daß viele Liberale ihre Position als voraussetzungslos und wertneutral, mitunter sogar als wissenschaftlich verstehen (welchen Anspruch sie dann mit den Marxisten gemeinsam haben). In Wahrheit aber beruht die Entscheidung für liberale Thesen nicht auf zwingender Einsicht, sondern auf Wertung. Dies braucht nicht als Makel empfunden zu werden: Konzepte für die Gestaltung der Gesellschaft stehen immer im Zeichen des Wertens. Wer sich dies als Liberaler eingesteht, wird der traditionell liberalen Betonung des Toleranzgedankens eine tiefere Begründung geben können, wird Toleranz als Respekt vor fremder Wertung begreifen.

Wie ist das Menschenbild beschaffen, das von einer liberalen Bejahung des „laissez-faire” vorausgesetzt werden muß? Es ist ein überaus optimistisches Menschenbild. Ehe es geistesgeschichtlich etikettiert wird, soll es am Beispiel der Vertragsfreiheit verdeutlicht werden. Diese gehört ja zum unentbehrlichen Inventar jeder liberalen Konzeption. Sie umfaßt insbesondere die Freiheit, jede beliebige Person als Vertragspartner auszuwählen oder abzulehnen (eine Freiheit, die natürlich auch dem potentiellen Partner zusteht) und mit diesem Partner beliebigen Vertragsinhalt festzulegen. Um das Gegenteil von Vertragsfreiheit kennenzulernen, braucht man nur das österreichische Mietenrecht zu studieren.

Wozu dient nun diese Vertragsfreiheit? Wird sie um ihrer selbst willen postuliert?

Anderer Weg zu sozialer Gerechtigkeit

Hier wie überhaupt bei der Auseinandersetzung mit dem „laissez- faire” wird dem liberalen Gedanken nicht auf den Grund gegangen, wenn man die Entfaltungsfreiheit und die ihr entsprechende Beschränkung der Staatsaufgaben als Selbstzweck ansieht. Es genügt auch nicht, den Freiheitswert des „laissez-faire” als seine letzte Begründung (die auf nichts anderes mehr zurückgeführt werden kann) anzugeben. Ein solches Verständnis des Liberalismus gerät in Verlegenheit, sobald man es am Anspruch des Sozialstaates mißt, Gerechtigkeit zu verwirklichen. Datier ist jede liberale Konzeption, die vor dem Anspruch des Sozialstaates bestehen will, ihrerseits gehalten, auf die klaren Gerechtigkeitsvorstel- Lungen zurückzugreifen, die vom klassischen Liberalismus lange vor dem Manchestertum formuliert wurden. Liberalismus bedeutet also nicht Ablehnung sozialer Gerechtigkeit, sondern Entscheidung für andere Wege zu ihr.

Ordnung, nicht Chaos

Der Vertrag, von dessen Freiheit eben die Rede war, ist einer der Wege zur Gerechtigkeit, die der Liberalismus meint. Er wurde in der neueren Zivilrechtslehre nicht nur als Akt privatautonomer Willensbetätigung, sondern auch als Mittel zu einer Gestaltung von relativ größter objektiver Richtigkeit erkannt. Diese Richtigkeitsgewähr des Vertrages beruht vor allem darin, daß er eine Regelung bildet, die jene setzen, die der zu regelnden Angelegenheit am nächsten stehen.

Die Parallele dieses Arguments zum Subsidiaritätsprinzip ist unverkennbar. Die These von der Richtigkeitsgewähr der Vertragsfreiheit gibt aber auch noch keine letzte Auskunft. So objektiv man sie zu fassen sucht, es bleibt doch eine Voraussetzung unvermeidlich: Es muß vorausgesetzt werden, daß durch die Aktivität der Nächstbeteiligten auch das Richtige bewirkt wird. Dieses Richtige — man mag es auch das Gute nennen — muß daher als in den Beteiligten angelegt gelten. Die Voraussetzung einer „prästabilierten Harmonie” macht die Wertgebundenheit des Liberalismus aus. Was er voraussetzt, ist das Bild vom Menschen, in dem Ordnung und nicht Chaos angelegt ist.

Zu erweisen, daß dieses Menschenbild zu Recht vorausgesetzt wird, ist unmöglich. Es geht eben um eine Entscheidung, nicht um eine logische Operation. Das Argument, mit dem liberale Wertung sich zu bescheiden hat, ist dieses: Wäre im Menschen nicht Ordnung, sondern Chaos angelegt, so müßte alle Kraft darauf verwendet werden, einen Staat zu ersinnen und zu errichten, der die Menschen zu ihrem Glück zwingt — nach Gerechtigkeitsansprüchen, über deren Inhalt die Organe dieses Staates sich befinden.

Vertrauen auf den Menschen

Gegen solches Vertrauen auf den Staat setzt der Liberale das Vertrauen auf den Menschen. Wenn er sich über die Unmöglichkeit einer stringenten Begründung seiner Haltung Rechenschaft gibt, wird er erkennen, daß nichts wichtiger ist als die unausgesetzte Verbindung zwischen der offenen Darlegung der eigenen Position und dem Versuch eines toleranten Verstehens fremder Positionen. Daher paßt die Formierung einer Partei zu keinem politischen Gedanken so wenig wie zum liberalen. Die Konstellationen, die liberalen Parteien nachhaltige Wirkung ermöglichten, haben sich als singulär erwiesen. Die Zukunft des liberalen Gedankens liegt anderswo. Sie besteht — gerade angesichts einer antiökonomischen Subventionspolitik — in der Chance des Arguments, in der eigenständigen Wirkkraft von Konzeptionen.

Das Arbeiterelend des 19. Tahrhunderts

Mit dem Wort „liberal” verbindet sich durchgängig die Vorstellung vom „laissez-faireEs ist — zum Unterschied von den bisher besprochenen Gleichungen — vorweg zu sagen, daß diese Verbindung zu Recht besteht, wenngleich sie das Konzept des Liberalismus mit dem Skandal des 19. Jahrhunderts, mit der Verursachung der „sozialen Frage”, belastet. In der Tat können nur jene Vorstellungen als liberal bezeichnet werden, die eine Gestaltung der Wirtschaft durch den Staat statt durch den Markt ablehnen — handle es sich nun um unrentable Kohlengruben oder um unabsetzbare Milch.

Es wäre zu billig, wollte man zur Verteidigung des liberalen Gedankens die Diktaturen des 20. Jahrhunderts gegen das Arbeiterelend des 19. Jahrhunderts aufrechnen. Immerhin gibt es zu denken, daß sich viele staatsinterventionistische Programme, die man zur Bewältigung der sozialen Frage vorlegte, als für Machtmißbrauch anfällig erwiesen haben. Die für eine richtige Würdigung des „laissez-faire” entscheidenden Aspekte ergeben sich jedoch erst aus der Erweiterung des gängigen Argumentationsmaterials um eine ökonomische und eine metaökonomische Aussage. Die ökonomische Aussage gilt der Machtlage am Markt, die metaökonomische der Voraussetzung eines Menschenbildes durch den Liberalismus.

Die Leistungsfähigkeit eines im Zeichen des „laissez-faire” stehenden Marktes hängt in eminenter Weise vom Kräfteverhältnis zwischen denen ab, die am Markt als Kontrahenten oder Konkurrenten aufeinandertreffen.

Die von den Arbeits- und Sozial- rechtlem seither längst typisierte und durchweg als strukturell be- zeichnete „wirtschaftliche Schwäche” des einzelnen Arbeitnehmers in der Industriegesellschaft gestattet oft (Zeiten der Überbeschäftigung bilden bisher doch die Ausnahme) keine Kräftekonstellation, bei der ein Markt leistungsfähig operieren könnte. Daher kommt der Bildung von Arbeitnehmerkoalitionen, durch die ein Ausgleich der wirtschaftlichen Schwäche des einzelnen Arbeitnehmers erfolgt, entscheidende Bedeutung für den Aufbau einer funktionierenden Marktwirtschaft zu. Die Bedeutung des Gegengewichtsprinzips für einen ohne Staatsintervention auskommenden Arbeitsmarkt ist heute längst erkannt, die Koalitionsfeindlichkeit liberal gemeinter Gesetze aus dem 19. Jahrhundert hat sich als ökonomischer Irrtum erwiesen.

Für das Verhältnis zwischen Konkurrenten fehlt es dagegen an jener Klarheit, die für das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gewonnen wurde. Daher entbrennt die Diskussion über die Kartelle immer wieder neu.

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