Nobelpreis - © Foto: Imago / Panama Pictures

Martin Selmayr: „Wir verteidigen Europas Friedensordnung“

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Russlands Krieg gegen die Ukraine ist der schwierigste Testfall für das europäische Friedensprojekt, sagt EU-Vertreter Martin Selmayr. Aber die Union werde auch diese Prüfung bestehen. Ein Gespräch zum Zehn-Jahres-Jubiläum des Friedensnobelpreises für die EU.

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Russlands Krieg gegen die Ukraine ist der schwierigste Testfall für das europäische Friedensprojekt, sagt EU-Vertreter Martin Selmayr. Aber die Union werde auch diese Prüfung bestehen. Ein Gespräch zum Zehn-Jahres-Jubiläum des Friedensnobelpreises für die EU.

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Martin Selmayr leitet die Vertretung der Europäischen Kommission in Wien. Österreich attestiert er eine sehr konstruktive Haltung in der EU-Sicherheitspolitik. Gleichzeitig versteht er nicht, wenn hierzulande die Russophilie zu Antiamerikanismus wird.

DIE FURCHE: Herr Selmayr, Ihre Großväter waren Soldaten im Zweiten Weltkrieg, danach Generäle in der Bundeswehr. Sie selbst sind EU-Spitzenbeamter: Lässt sich an diesen Berufswegen die Entwicklung des Friedensprojekts Europa ablesen?
Martin Selmayr:
Das europäische Friedensprojekt haben mir meine Großeltern nähergebracht. Als ich 15 war, sind sie mit mir ins Elsass, zu den Schlachtfeldern der Weltkriege gefahren. Sie zeigten mir Verdun, wo die weißen Kreuze bis an den Horizont reichen. Mein Großvater sagte: Die Aufgabe deiner Generation ist, dafür zu sorgen, dass so etwas nie mehr passiert. Das ist der Grund, warum ich für die EU arbeite. Das Zusammenraufen ist nicht immer einfach. Wir streiten, aber das tun wir nicht mehr mit Bajonetten und Gewehren, sondern indem wir bei der Arbeit an Gesetzestexten und anderen Dokumenten den Änderungsmodus in der Word-Funktion einschalten, Wörter rausstreichen, ergänzen, bis wir uns auf einen gemeinsamen Text einigen. Die friedliche Kompromissfindung ist der große zivilisatorische Fortschritt, das, was Europa jeden Tag zusammenhält und was auch die Welt als Vorbild sieht.

DIE FURCHE: Den Friedensnobelpreis hat die EU vor allem wegen der deutsch-französischen Aussöhnung bekommen. Wie haben Sie diese erlebt?
Selmayr:
Ich habe an einem deutsch-französischen Schüleraustausch teilgenommen und bin mit einem Schulfreund aus den Vogesen danach in Brieffreundschaft geblieben. Nach dem Mauerfall im November 1989 hörte ich fast ein Jahr lang nichts von ihm.

DIE FURCHE: Warum?
Selmayr:
Was für uns positiv war, war für ihn und viele Franzosen ein Schock. Ich schrieb weiter, er antwortete nicht. Er und viele andere fürchteten, dass Deutschland mit der Wiedervereinigung in alte Muster zurückfällt – und wenn schon nicht mit Waffen, so doch mit Wirtschaft und Währung zur Bedrohung wird. Da wurde mir erstmals bewusst, dass der Friede in Europa und die deutsch-französische Freundschaft nicht selbstverständlich sind. Am 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung, schickte er mir ein Telegramm: „Brüderlich mit Herz und Hand, herzlichen Glückwunsch, für ein vereintes Deutschland in einem friedlichen Europa.“

DIE FURCHE: Sie haben sich sogar den Wortlaut gemerkt?
Selmayr:
Ja, weil ich seither weiß, dass die Wiedervereinigung, die ein Geschenk des europäischen Friedensprozesses ist, gerade für uns Deutsche immer mit der Verantwortung einhergeht, uns für diesen Friedensprozess einzusetzen. Das deutsch-französische Verhältnis, auch wenn es nie spannungsfrei ist, bleibt der Schlüssel für ein friedliches Europa. Ich komme gerade von einem Gespräch mit österreichischen Meinungsführern. Da hieß es unter anderem, Straßburg sei als Standort des Europäischen Parlaments neben Brüssel überflüssig. Das ist für mich undenkbar.

Friedensprojekt heißt nicht, zuzusehen, wie auf der anderen Straßenseite jemand mit vorgehaltener Waffe verprügelt wird.

DIE FURCHE: Es gibt aber gute Gründe dafür, angefangen von Zeit-, Kosten-, CO₂- Einsparungen, die für einen Parlamentssitz in Brüssel sprechen.
Selmayr:
Auch die Niederlande haben einen Regierungssitz und eine Hauptstadt. Ich komme selber aus Bonn, nach wie vor der erste Dienstsitz von einigen deutschen Ministerien. Das kann man organisieren, und zwischen Brüssel und Straßburg ist das sehr effizient geregelt. Die Plenartagungen in Straßburg haben zudem einen kompromissfördernden Charakter. Die meisten großen europäischen Ergebnisse kommen in Straßburg zustande. Damit steht Straßburg im doppelten Sinn für das Friedensprojekt: Wir sind an dem Ort, wo wir Frieden leben, statt Krieg zu führen, und wir arbeiten dort sehr effizient an europäischen Kompromissen.

DIE FURCHE: Wie nobelpreiswürdig sind diese Kompromisse?
Selmayr: Da gibt es sicher Defizite, wie überall auf der Welt. Aber entgegen der vielen pessimistischen Aussagen hat das gemeinsame Europa große Krisen überstanden und ist dabei zusammengewachsen. Die Coronapandemie war der beste Beweis. Die gemeinsame Impfstoffbeschaffung und vieles mehr haben gezeigt: Wir Europäer halten zusammen. Zum Friedensprojekt gehört, Solidarität zu üben, auch dann, wenn es etwas kostet. Das verdeutlicht die Antwort Europas auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – das ist der schlimmste, der schwierigste Testfall für ein Friedensprojekt.

DIE FURCHE: Und die EU besteht diesen Test?
Selmayr:
Wir verteidigen Europas Friedensordnung. Die Ukraine wird völkerrechtswidrig angegriffen. Das verstößt gegen das Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen, gegen die Schlussakte von Helsinki, der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, gegen die Charta von Paris und weitere Grundlagendokumente, die auch Russland unterschrieben hat. Wir hätten das Recht, einige würden sogar sagen, die moralische Pflicht, an der Seite der Ukraine militärisch zu kämpfen. Das machen wir nicht, weil wir nicht weiter eskalieren wollen. Doch die Lieferung von Verteidigungswaffen ist das Mindeste, um uns des Namens Friedensprojekt würdig zu erweisen. Frieden heißt nicht, zuzusehen, wie auf der anderen Straßenseite jemand mit vorgehaltener Waffe verprügelt und vergewaltigt wird, sondern ihm zur Seite zu springen und nicht nur mit Pfefferspray zu helfen.

DIE FURCHE: Das schafft aber nicht die EU, sondern die NATO.
Selmayr:
Die EU leistet der Ukraine in historischem Ausmaß finanzielle und humanitäre Hilfe. Militärisch können wir aber eine weitere Eskalation des Konfliktes bis in die EU hinein nur deshalb verhindern, weil ein Großteil der EU-Staaten in der NATO ist. Die NATO ist heute gewissermaßen die europäische Armee. Und wir haben mit den USA einen Partner, der unsere Werte teilt und einen Großteil der Lasten übernommen hat. Dass wir in Zukunft mehr selbst tragen müssen, ist – glaube ich – jetzt den Letzten in Europa klar geworden. Wir müssen auch im Verteidigungsbereich lernen, nicht mehr in nationalen Schubladen zu denken (siehe Kasten Friedensfazilität). Als der Krieg in der Ukraine begann, hatten wir elf Prozent unserer Verteidigungsausgaben gemeinsam investiert. Heute sind es 18 Prozent, Ziel sind 35 Prozent. Hier zeigt sich wieder: Eine externe Herausforderung zwingt uns, enger zusammenzuarbeiten, auch im Verteidigungsbereich.

DIE FURCHE: Welche Rolle bleibt da den neutralen Staaten?
Selmayr:
Wenn ein Land verfassungsrechtlich neutral ist, wird das anerkannt. Da gibt es aus Brüssel keine Ratschläge dazu. Ich finde die österreichische Position sehr konstruktiv. Österreich trägt alles mit, was wir in der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik unternehmen. Und die von Österreich teilweise angewandte konstruktive Enthaltung ist ausdrücklich als Problemlösungsmechanismus vorgesehen. Das gibt es nur im europäischen Friedensprojekt, dass wir Unterschiede auf gewisse Weise akzeptieren. Umgekehrt würde ich mir in der öffentlichen Debatte in Österreich wünschen: Bitte respektiert, dass der überwiegende Teil der EU-Staaten zur NATO mit dem wichtigsten Verbündeten USA gehört. Es darf nicht sein, dass aus der Russophilie Antiamerikanismus wird. Zum europäischen Friedensprojekt gehört, dass wir mit den Staaten, die unsere Werte teilen, mehr gemeinsam haben als mit dem Aggressor im Osten.

Fakt

Friedensbudget oder Peacewashing?

Der Begriff „Friedensfazilität“ ist nicht nur schwer auszusprechen, auch dessen Umsetzung ist nicht leicht – geht es dabei doch um den Ausbau der EUFähigkeiten zu Konfliktverhütung, Friedenskonsolidierung und Stärkung der internationalen Sicherheit. Der Friedensforscher Thomas Roithner sieht darin eine „Charakterveränderung“ der EU in Richtung Militärunion und eine Form des „Peacewashing“ (siehe Seite 4). Kommissionsvertreter Martin Selmayr widerspricht: Der „weitsichtige Vorschlag“ dazu kam 2018 vom damaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Dieser sei „als Luxemburger, nicht als Kriegsverherrlicher bekannt“, sagt Selmayr – und „diese Friedensfazilität von gut fünf Milliarden Euro können wir jetzt bei der Unterstützung der Ukraine jeden Tag gebrauchen“. Knackpunkt dieser Zusammenarbeit ist die Finanzierung. Aufgrund von Einschränkungen des Lissabon-Vertrags und der neutralen Mitgliedsstaaten war dafür ein eigener Fonds neben dem EU-Budget nötig, der es den Neutralen ermöglicht, sich konstruktiv zu enthalten.

Selmayr - © Foto: Wolfgang Machreich

Martin Selmayr

Martin Selmayr ist ein deutscher Jurist und EU-Beamter. Von November 2014 bis Ende Februar 2018 war er Kabinettchef des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und fungierte als Sherpa des Kommissionspräsidenten. Vom 1. März 2018 bis Juli 2019 war er Generalsekretär der Europäischen Kommission. Seit 2019 leitet er die Vertretung der Europäischen Kommission in Wien.

Martin Selmayr ist ein deutscher Jurist und EU-Beamter. Von November 2014 bis Ende Februar 2018 war er Kabinettchef des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und fungierte als Sherpa des Kommissionspräsidenten. Vom 1. März 2018 bis Juli 2019 war er Generalsekretär der Europäischen Kommission. Seit 2019 leitet er die Vertretung der Europäischen Kommission in Wien.

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