"Maschinengewehre auf den Klippen"

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Auch in Großbritannien haben sich Hilfsinitiativen formiert, um Flüchtlinge, die illegal über das Meer einreisen, erstzuversorgen. Bridget Chapman, Leiterin einer solchen Initiative in Kent, spricht über ihre Erfahrungen.

DIE FURCHE: Was sind die Gründe dafür, dass Flüchtlinge nun mit Booten über den Kanal kommen?

Bridget Chapman: Die Welle begann Ende Oktober, Anfang November. Eigentlich bin ich überrascht, dass es nicht schon früher geschah, denn an klaren Tagen kann man die französische Küste von hier so deutlich sehen. Wenn man in Calais unter schrecklichen Bedingungen festsitzt, von der Polizei angegriffen und mit CS-Gas besprüht wird, Zelt und Schlafsack einem weggenommen werden, sieht man natürlich erst recht, wie nahe das ist. Die britische Regierung hat Millionen und Abermillionen ausgegeben, um den Hafen von Calais zu sichern. Mit LKW und Boot hierhin zu kommen, ist also immer schwerer geworden.

DIE FURCHE: Gibt es noch andere Faktoren?

Chapman: In den zwei Monaten vor Weihnachten hatten wir extrem ruhiges, mildes Wetter. Und dann hörte ich einige Male, dass es scheinbar eine Art Brexit-Panik gibt, dass also Schmuggler in Calais sagen: "Du musst jetzt gehen, denn nach dem Brexit wird es viel schwerer." Ob es wirklich schwerer wird, weiß man nicht, aber die Leute glauben es. So sind während der letzten beiden Monate viele Menschen herübergekommen. Ich denke, es ist ein Wunder, dass dabei niemand ums Leben kam.

DIE FURCHE: Haben Sie selbst in Ihrer Arbeit mit Bootsflüchtlingen zu tun? Chapman: Wir arbeiten bei KRAN meistens mit unbegleiteten Minderjährigen, die Asyl suchen. Wenn sie hier ankommen, werden sie die ersten sechs Wochen in einem Empfangszentrum in Ashford, Kent, untergebracht. Wir arbeiten dort auch mit jungen Iranern, die vor Kurzem ins Land kamen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass manche von ihnen auf diesen Booten ankamen. Aber ich habe nicht direkt gefragt. Wir stellen zu Beginn nie Fragen über ihre Reise, um eventuelle Traumata nicht wieder hochzubringen.

DIE FURCHE: In Großbritannien glauben derzeit viele, das Land sei ein soft touch und ziehe durch eine zu weiche Asylpolitik Bootsflüchtlinge an. Wie sehen Sie das?

Chapman: Großbritannien ist sicher kein soft touch. Ich denke, das ist eine übersteigerte Wahrnehmung der eigenen Attraktivität für Asylbewerber. Wir denken, alle wollten hierhin kommen. Doch verglichen mit anderen Ländern haben wir eine eher kleine Zahl von Anträgen. Als Asylbewerber muss man mit sehr wenig Geld leben, darf nicht arbeiten, die Unterkunft ist oft von sehr schlechter Qualität, das ist kein leichtes Leben. Außerdem gibt es seit Theresa Mays Zeit als Innenministerin die hostile environment-Politik, die das Land zur "feindlichen Umgebung" für Menschen mit ungeklärtem Aufenthalts-Status machen soll.

DIE FURCHE: Oft hört man auch Empörung, dass Bootsflüchtlinge nicht sofort nach Frankreich zurückgeschickt werden. Auch der Innenminister denkt offenbar darüber nach.

Chapman: Es gibt natürlich die Dublin- Regelung, wonach ein Asylantrag im ersten sicheren Land gestellt werden soll, das man erreicht. Was bedeutet, dass die Länder am Rand der EU mehr Geflüchtete aufnehmen sollen als die reicheren Länder im Norden wie Großbritannien. Aber nach der Genfer Konvention haben diese Menschen das Recht, in jedem Land einen Asylantrag einzureichen. Darum werden sie nicht nach Frankreich zurückgebracht.

DIE FURCHE: Ist es nicht seltsam, dass ein paar Hundert Flüchtlinge einen solchen Krisenzustand auslösen? Wie erklären Sie sich, dass diesen Menschen so viel Ablehnung entgegenschlägt?

Chapman: Nun, wir sind eine Insel. Und daher hat es hier immer ein mentales Element gegeben, dass wir uns gegen Eindringlinge verteidigen müssen. Das ist natürlich veraltet und nicht mehr zutreffend. Aber im Zuge des Brexit werden den Menschen viele Lügen über Migration und Asyl aufgetischt.

DIE FURCHE: Wie erleben Sie das persönlich?

Chapman: Es ist gesellschaftlich viel akzeptabler geworden, wirklich entmenschlichende Dinge zu sagen. Ich bekomme Berichte, in denen steht, wir sollten diese Boote torpedieren und es wäre gut, wenn die Migranten ertränken. Oder dass wir Maschinengewehre auf den Cliffs of Dover haben und auf die Boote feuern sollten. Man spricht über sie, als seien sie keine Menschen. Es macht mir Angst, dass wir so hart geworden sind.

DIE FURCHE: Die Menschen hier am Kanal waren gegenüber Bootsflüchtlingen nicht immer so negativ eingestellt.

Chapman: Als Deutschland 1914 Belgien besetzte, gab es wie in jedem Krieg Vertriebene. Damals kamen die Menschen in Booten über den Kanal. Im Folkestone Museum gibt es ein Gemälde, auf dem man kleine hölzerne Ruderboote sieht. Und sie wurden willkommen geheißen. Der Bürgermeister in Amtskette, die Priester, die ganze Stadt war gekommen. Eine Krankenschwester war da, um zu helfen. Dieses Land nahm damals 250.000 Menschen auf. Am vollsten Tag kamen 16.000 durch Folkestone! Was ist aus uns geworden, dass wir damals zusammenkamen, um zu helfen, und jetzt sind wir erschrocken über 250 nasse, kalte, verzweifelte Leute in Schlauchbooten! Wir müssen unsere Menschlichkeit wiederfinden!

Bridget Chapman ist Projekt-Koordinatorin und Sprecherin des Kent Refugee Action Networks (KRAN) in Folkestone

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