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„Maßanzug“ für de Gaulle

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,,Sie dachte mit Recht, daß eil Volk, das nur durch diesen oder jenei Mann gerettet werden könne, nicht fü lange gerettet sein werde — selbs durch diesen Mann —, und es außer dem kaum verdiene, gerettet zu wer den. Mit der Freiheit ist es nicht das selbe wie mit einer Schlacht. Ein Schlacht, als Angelegenheit eines ein zigen Tages, kann durch das Talen des Generals gewonnen werden, abe die Freiheit muß — um existieren zi können — ihr Fundament in der Nation selbst haben und nicht in den Tugenden oder im Charakter eines Chefs“. Niemand wird die verblüffende Aktualität dieser vermutlich 1805 von Benjamin Constant in seinem „Brief über Julie Talma“ niedergeschriebenen Sätze bestreiten wollen. Sie werfen eine Reihe von grundgescheiten Fragen auf, die freilich nicht in Form eines Zeitungsaufsatzes beantwortet werden können, die jedoch am Anfang aller Versuche stehen müssen, de Gaulles konstitutionelle Reformabsichten kritisch zu durchleuchten.

Wie stets, wenn es in der V. Republik um politische Gedanken geht, erschien die Idee einer grundsätzlichen Verfassungsänderung seltsam losgelöst von greifbaren Begleitumständen — gleichsam wie ein Meteor aus dem Weltall. Von unbekannter, aber gewiß berufener Hand lanciert, wurde sie der öffentlichen Meinung zum Mahl angeboten, um auf dem Wege der Induktion die möglichen Verdauungsschwierigkeiten zu ermitteln. So glaubt man vage zu wissen, daß sich der Staatschef mit der Absicht trägt, die zweite Phase seines Regimes stärker auf die Grundzüge einer Präsidialdemokratie auszurichten und insbesondere den Staatspräsidenten direkt vom Volke wählen zu lassen. General de Gaulle selbst hat sich in einer Fernsehrede lediglich zur Absicht geäußert, häufiger zum Referendum zu greifen, „dem saubersten, aufrichtigsten und demokratischsten Verfahren, das es gibt“. Diese etwas rudimentären Gegensätze einer Verfassungsreform wurden dem Bürger im Verlaufe der öffentlichen Diskussion unter dem Schlagwort „direkte Demokratie“ präsentiert.

Nach seiner bewährten Taktik nimmt General de Gaulle die Verfassungsreform im juristischen Sinne durch eine Evolution der Verfassungswirklichkeit voraus. Das Referendum hat er bereits anläßlich seiner letzten Fernsehrede zum traditionellen Bestandteil der politischen Sitten Frankreichs erklärt. Den Ausbau der präsidialen Vollmachten hat er bereits — abgesehen vom vergangenen Referendum - durch die Kabinettsumbildung eingeleitet. Die bisherigen praktischen Erfahrunger. im Rahmen der von Debre geschaffenen Verfassung der V. Republik haben nämlich erkennen lassen, daß die schweren Konflikte zwischen Parlament und Regierung zwar vermieden wurden, daß aber an ihre Stelle dafür heikle Differenzen zwischen den zwei Köpfen der Exekutive — dem Staatspräsidenten und dem Premierminister — getreten sind. De Gaulle begegnete diesem ärgerlichen Hindernis durch zwei Maßnahmen: er ersetzte den Politiker Debre durch den glänzenden Verwaltungsfunktionär und Wirtschaftsfachmann Pompidou und schwächte gleichzeitig die Opposition im Parlament durch eine Ausweitung der parteipolitischen Basis der Regierung.

Die gelegentliche Dringlichkeit der Anpassung einer Verfassung an neue Gegebenheiten kann gewiß nicht bestritten werden. Besonders in Frankreich folgen sich Verfassungsänderungen in sehr schnellem Wechsel. Sie vermögen das politische Bewußtsein des Bürgers also kaum zu schockieren. Anderseits sind diese unablässigen Manipulationen aber durchaus nicht geeignet, die verschwommenen und vor allem mißtrauischen Vorstellungen, die der Franzose von Politik und Staat hat, durch ein solides staatsbürgerliches Traditionsgefühl zu ersetzen. Eine pedantische Kritik der Evolution des gaullistischen Regimes ist also nicht angebracht. Desto wichtiger erscheint es indessen, diese angebliche „direkte Präsidialdemokratie“ an den primitivsten Prinzipien der Demokratie zu messen und sie auf ihre langfristige Tauglichkeit hin zu prüfen.

Vertieft man sich in die gegenwärtige Diskussion um die „direkte Präsidialdemokratie“ und das Referendum, dann gewinnt man den Eindruck einer heillosen aber offenbar absichtlich geförderten Begriffsverwirrung. So ist es beispielsweise ein Unfug, eine repräsentative Demokratie dadurch zu einer „direkten“ Demokratie zu machen, daß man den Stimmbürgern von Zeit zu Zeit huldvoll gestattet, eine Suggestivfrage mit Ja oder Nein zu beantworten. Eine Demokratie verdient das Prädikat „direkt“ so lange, als der einzelne Bürger in einem überschaubaren politischen Raum direkt an den Entscheidungen mitwirken kann. Aus der Erkenntnis heraus, daß der komplizierte Apparat des modernen Staates mit seinen mehreren Millionen Einwohnern dieses Verfahren technisch ausschließt, gelangte man zur repräsentativen Demokratie; denn auf diesem Wege lassen sich zwei grundlegende Prinzipien der Demokratie bewahren: die politische Meinungsbildung „von unten nach oben“ und die Verantwortlichkeit der Exekutive gegenüber dem Souverän oder seiner Vertretung, dem Parlament.

In einer modernen repräsentativen Demokratie — wie etwa der Schweiz — kann das Referendum tatsächlich eine sinnvolle Institution sein, weil sie dem Volk als Souverän das Recht einräumt, gesetzgeberisch aktiv zu werden. Das Verfahren bedeutet' in diesem Falle eine Rückkehr zu den Quellen der Demokratie und gleichzeitig ein erzieherischer Akt für die politische Verantwortung des Bürgers. Im Gegensatz dazu führt sich das gaullistische Referendum auf ein Recht des Staatspräsidenten zurück, dem Volk — wenn es erwünscht scheint — das Wort zu einer Fragestellung eigener Formulierung zu erteilen. Die Ersetzung des Parlaments durch die Stimmbürger muß auf das demokratische Empfinden des französischen Volkes langfristig destruktiv wirken.

Aus diesen Erwägungen heraus gelangt man zum Eindruck, daß de Gaulle- Verfassungsreform weniger auf die politischen Besonderheiten des französischen Staates als auf das persönliche Maß des gegenwärtigen Staatspräsidenten ausgerichtet ist. „Wenn ich wissen will, was Frankreich denkt, befrage ich mich selbst“, sagte General de Gaulle und fand damit wohl die Formel der „direktesten“ Demokratie. De Gaulle hat gewiß nichts mit einem Faschisten gemein; aber ist nicht die Gefahr groß, daß er sich mit der beabsichtigten Verfassungsreform einen konstitutionellen Maßanzug schneidern läßt, der auch Politikern geringeren moralischen Formats bequem sitzen könnte?

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