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Masse oder „Kleiner Mann“?

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Die Alternative unserer Zeit heißt — genau betrachtet — schon längst nicht mehr Kapitalismus oder Sozialismus. Die wahre Front, an der die Entscheidungsschlacht um die Zukunft des Menschen von heute geschlagen wird, liegt zwischen zwei Begriffen, die ein gedankenloser Sprachgebrauch gerne als Synonima verwendet: Unsere Existenzfrage ist, ob die Zukunft ein Zeitalter der Massen oder des „kleinen Mannes“ sein wird.

Die moderne Industriegesellschaft rteht am Scheideweg zwischen den mechanistischen, uniformierenden Ord-numgsformen des Kollektivismus und einer personalen Ordnung, die den praktischen und moralischen Kräften des Einzelmenschen erst die volle Entfaltung ermöglicht, also zwischen amorpher Massengesellschaft und einer pluralistischen Gesellschaftsstruktur, zwischen Totalisierung und Demokratisierung. Professor Johannes S c h a-s c h i n g SJ. hat dies in seinem Kommentar zur Sozialenzyklika „Mater et Magistra“ klar ausgedrückt.

„Worum es aber dem Papst geht, ist dieses: Der menschliche Körper hängt von der harmonischen Entfaltung seiner Glieder ab. Jedes Siechtum in den Teilen führt zur Infektion des Ganzen. Auch die Wirtschaft eines Volkes ist ein gegliedertes Ganzes. Der Verfall des bäuerlichen und handwerklichen Bereiches führt mit Notwendigkeit zu schweren ' Gleichgewichtsstörungen und damit zur wachsenden Gefahr der Kollektivisierung. Das Gleichgewicht innerhalb der Völker: Mater et Magistra nennt diese Frage .das Problem unserer Zeit'.“ Gewiß ist die Kollektivisierung in erster Linie ein geistiges Problem: Führen Erziehung und allgemeine Gesinnung nicht zur Entfaltung der personalen Kräfte des Menschen, so kann vom Wirtschaftlich-Organisatorischen her allein kein Damm gegen die Kollektivisierung errichtet werden. Aber — und das wird in den päpstlichen Sozialenzykliken ganz klar zum Ausdruck gebracht — es müssen die materiellen Voraussetzungen geschaffen werden, um die Entwicklung des Menschen in Freiheit und Würde zu gewährleisten und ihm das für die individuelle und soziale Entwicklung unerläßliche Gefühl der Eigenverantwortung zu geben. „Mater et Magistra“ sagt dazu:

„Es ist unmöglich, ein für allemal die Art des Wirtschaftens zu bestimmen, die am besten der Menschenwürde entspricht, die am besten im Menschen das Verantwortungsbewußtsein für seine Arbeit zu wecken vermag. Immerhin gibt Unser Vorgänger Pius XII. folgenden praktischen Wink: ,Zum selben Zweck müssen die kleineren und mittleren Besitzstände in der Landwirtschaft, in Handwerk und Gewerbe, in Handel und Industrie garantiert und gefördert werden. .. .Im Interesse des Gemeinwohls und im Rahmen des technischen Fortschrittes sind der handwerkliche Betrieb und der landwirtschaftliche Familienbetrieb zu schützen und zu fördern.“

Wer allerdings diese Sätze der Enzyklika genau liest, wird nicht übersehen, daß der Gewerbeförderung ganz klare Grenzen gesetzt werden, und zwar durch das Gemeinwohl und den technischen Fortschritt. Die kirchliche Soziallehre tritt also nicht für Protektionismus und mittelalterliche Zunft-romantik ein, sondern verlangt, daß die sozialen und moralischen Vorteile, die der Kleinbetrieb mit sich bringt, nicht auf Kosten des Fortschrittes und des allgemeinen Wohlstandes erreicht werden.

Bremsen gegen den Großbetrieb

Liegt hierin kein Widerspruch? Tendiert nicht die moderne Industriegesellschaft unaufhaltsam-zum Großbetrieb, ist die „Konzentration des Kapitals“, die Marx prophezeit hat, überhaupt noch aufzuhalten? Kann der Kleinbetrieb überleben?

Diesen Fragen, die sich dem modernen Menschen aufdrängen, liegt eine Reihe von Irrtümern zugrunde. Vorerst sei festgehalten, daß die vorausgesagte Konzentration des Kapitals nicht eingetreten ist. Prof. Walter Heinrich schrieb dazu vor einiger Zeit:

„Wir haben erst vor kurzem auf einem gewerbewissenschaftlichen Kongreß festgestellt, daß im Jahre 1855 voh tausend Menschen im deutschen Bereich 71,5 im Handwerk tätig waren und heute sind es 72.“

Die Statistik widerlegt also ganz eindeutig die These von der Konzentration des Kapitals. Diese Tatsache, die der gängigen Theorie vom Sterben der Kleinbetriebe so eindeutig widerspricht, müssen wir uns vor Augen halten.

Die alte Theorie ging davon aus, daß der Fortschritt der Technik die Serienproduktion und damit den immer größeren Produktionsbetrieb begünstige. Inzwischen sind aber verschiedene Faktoren wirksam geworden, die dieser Entwicklung entgegenwirken.

Technische Faktoren:

Die Erfindung und Verbreitung des Eektromotors machte die Mechanisierung auch kleiner Betriebe möglich. Das Gewerbe ist nicht mehr gezwungen, ausgesprochenes Handwerk zu sein, sondern kann sich nun — ebenso wie die Industrie — der Technik bedienen. Klein- und Mittelbetriebe konnten in bestimmten Sparten zur Herstellung von Kleinserien übergehen und sind bei geeigneten Waren mit dem Großbetrieb durchaus konkurrenzfähig, in manchen Fällen diesem sogar überlegen.

Technik und Industrie erwiesen sich häufig als Gewerbeförderer. So etwa wäre das umfangreiche und blühende Gewerbe der Kraftfahrzeugmechaniker nicht denkbar ohne die rationelle Massenferrigung von Automobilen und Motorrädern usw. Das gleiche gilt für

Elektriker, Installateure, RadiqspezlaJi-sten u. a. “

Klein- und Großbetriebe ergänzen einander. Große Fertigwarenfabriken erzeugen heute aus reinen Rentabilitätsgründen längst nicht mehr sämtliche benötigte Bestandteile im eigenen Betrieb. Sie arbeiten mit Sublieferanten, als welche in den meisten Fällen

Gewerbebetriebe fungieren und damit eine neue wichtige Aufgabe in der modernen Wirtschaft erfüllen.

Wirtschaftliche Faktoren:

Die Verteilung — besonders technischer Produkte — ist ohne eine breite Streuung nicht nur der Verkaufs-, sondern auch der Wartungsund Reparaturstellen unmöglich. Ohne den selbständigen Gewerbetreibenden gäbe es zum Beispiel für Automobile Servicestellen wahrscheinlich nur in den Städten.

Der Massenwohlstand vergrößert die Nachfrage nach Gütern des „gehobenen Bedarfes“, die in vielen Fällen nur durch den kleineren Betrieb befriedigt werden kann. Für Einzel-und Sonderanfertigungen, für Leistungen von Maßschneidereien und anderem herrscht heute ein größerer Bedarf als je zuvor, da nunmehr die Industrie durch ihre Massenfertigung die Basis des Wohlstandes schafft, durch die erst die große Nachfrage nach Individual- und Spezialgütern möglich wird.

Die zunehmende Mechanisierung und Automatisierung der Güterproduktion ermöglicht die Verlagerung der Arbeitskraft in jenen Bereich, den der französische Wissenschaftler Fourastie als „tertiäre Produktion“ bezeichnet, worunter die Dienstleistungen zu verstehen sind. Seiner Ansicht nach werden im Jahre 2000 in den reifen Industriestaaten schon 70 Prozent aller wirtschaftlich tätigen Menschen in diesem tertiären Bereich beschäftigt sein. In dieser arbeitsintensiven Aktivitätssphäre, in der die Massenproduktion nicht zut Geltung kommen kann, sind der Klein- und der Mittelbetrieb eindeutig überlegen.

Die Zeit arbeitet für das Gewerbe

Wir sehen also, daß die Dezentrali-sationstendenzen die Konzentrationsimpulse heute zumindest kompensieren, wenn nicht sogar übertreffen. Voraussetzung hierfür sind freilich der freie Markt, die freie Konsumwahl sowie eine Steuer- und Sozialgesetzgebung, die die Lebensfähigkeit des kleineren, vor allem des arbeitsintensiven Betriebes nicht aushöhlen.

Die Zeit arbeitet also für das Gewerbe, und man kann ohne nationalökonomisch schlechtes Gewissen für die Stärkung des Kleinbetriebes eintreten. Aber neben den wirtschaftlichen sprechen auch psychologische, moralische und soziale Gründe für den Kleinbetrieb, und zwar sowohl vom Standpunkt der Produktion als auch des Konsums:

• Die Entfremdung zwischen Mensch und Arbeit hat nicht — wie Marx behauptet — rein materialistisch-mechanische Ursachen, sondern ist psychologisch motiviert. Ein Mann, der tagaus, tagein einen einzigen Handgriff durchführt, wird zu seinem Produkt zu keinem Verhältnis kommen, auch wenn er das mehr oder minder erhebende Bewußtsein hat, Mitbesitzer der Fabrik zu sein, weil diese entweder der Belegschaft oder gar „dem Volk“ gehört. Dagegen wird ein Geselle, dem kein Nagel in „seiner“ Werkstätte gehört, sehr wohl ein persönliches Verhältnis zu seinem Produkt finden, wenn er es vom Rohstoff bis zum letzten Schliff selbst herstellt, den ganzen Arbeitsablauf überblicken kann und im gelungenen Werkstück die eigene Arbeit gewürdigt findet, anerkannt vom

Meister und oftmals auch direkt vom Kunden.

• Die Formung des jungen Menschen gelingt im kleineren Betrieb unter unmittelbarer Aufsicht des Meisters wesentlich besser als im Großunternehmen. Die Meisterlehre — auch wenn sie weniger systematisch durchgeführt und wissenschaftlich durchdacht sein sollte — ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der Ausbildung in der Lehrwerkstätte im Großunternehmen vorzuziehen. Die Meisterlehre ist lebensnäher und leitet besser zur persönlichen Initiative und Eigenverantwortung hin.

• Die Möglichkeit zur Individual-und Spezialanfertigung auf Wunsch des Kunden befreit diesen aus der Rolle des rein passiven Konsums und wirkt den Gefahren einer „Kollektivisierung durch die Ware“ entgegen. Es werden die Voraussetzungen geschaffen, den steigenden Lebensstandard von der bloß quantitativen Konsumexpansion in die qualitative Konsumelektion überzuführen, damit die Bedarfsgestaltung zu rationalisieren und eine Sinngebung des Wohlstandes anzubahnen.

• Die selbständige Betätigung als Gewerbetreibender schafft jenen initiativen und eigenverantwortlichen Menschentyp, der die Voraussetzung für das Funktionieren jeder echten Demokratie bildet und deren Entartung in die Ochlokratie — als Vorstufe für einen neuen Tyrannis — verhindert.

Intelligenz, Kapital und Arbeit

Der Gewerbetreibende ist ferner auch das festeste Bollwerk gegen jenen nationalökonomischen Surrealismus, der das Heil der Wirtschaft im Schuldenmachen sieht. Er weiß, daß Sparsamkeit und wohlüberlegter Konsumverzicht nach wie vor die einzig verläßliche Grundlage fÜT den eigenen und allgemeinen Wohlstand bilden. Symptomatisch ist dafür die Feststellung des Tübinger Institutes für angewandte Wirtschaftsforschung, wonach die auf das Nettoeinkommen bezogenen Sparquoten für Arbeiter 3,7 Prozent, für Angestellte 9,3 Prozent, für Beamte 16 Prozent und für selbständige Erwerbstätige 22 Prozent — bei Hinzurechnung der nichtentnom-menen Gewinne sogar 40 Prozent — betragen.

Der Familienbetrieb als Prototyp des Gewerbebetriebes (der die Mitarbeit Familienfremder nicht ausschließt, in erster Linie aber Familienmitglieder beschäftigt) hat außerdem auf die Ehemoral und die Erziehung der Kinder zweifellos einen günstigen Einfluß. Hier wird die Ehe zu echter Kameradschaft und Schicksalsgemeinschaft, und der Wille zum Kind ist dort, wo es um die Weitergabe und den künftigen Aujbau des selbst Geschaffenen geht, wesentlich stärker als in Bevölkerungsschichten mit reiner Konsumhaltung.

Der Klein- und der Mittelbetrieb sind daher für den Sozialorganismus unerläßlich und entsprechen am besten jenen Funktionen der modernen Wirtschaft, die Pius XI. in „Quadragesimo anno“ folgendermaßen umreißt: fruchtung und Ergänzung der verschiedenen, in ihrem Wohl und Wehe aufeinander angewiesenen Gewerbezweige, nicht zuletzt das Zusammenwirken, der innige Bund von Intelligenz, Kapital und Arbeit gewährleisten der menschlichen Schaffenskraft ihre Fruchtbarkeit.''

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