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Menderes und seine,Demokraten‘

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Hält man es für möglich, daß ein Parteiführer in einer Wahlrede nicht offen oder versteckt auffordert, ihn selbst und seine Partei zu wählen? Ja daß er vor seine Wähler hintritt und ihnen erklärt, er wolle ihre Stimme nicht?

Man würde es für ein nicht gerade geschicktes Manöver halten, das in der Geschichte der demokratischen Staatsformen bestenfalls als skurrile Absurdität seinen Platz finden könne. Aber, und dies war das Faszinierende, ja vielleicht Erschütternde im türkischen Wahlkampf 1957: Fevzi Lütfi Karaosmanoglu, der Führer der „Hürriyet“- (Freiheits-) Partei, meinte seine Worte, die er am 12. Oktober in Manisa sprach (dem antiken Magnesia am Sipylos, wohin der Sage nach die trauernde Niobe vom Wind entführt wurde), blutig ernst. Er und die Führer der anderen Oppositionsparteien, die ähnliche Wahlparolen in das Volk warfen, hatten nicht die Absicht, billige Augenblickserfolge zur Schau gestellter Eitelkeiten zu erringen. Vielmehr warfen sie ihre Persönlichkeit, ihren Ruf und ihre Freiheit in die Waagschale — nicht um sich selbst und ihre Parteien zum Sieg zu führen, sondern um die nahezu totale Macht zu brechen, mit welcher die „Demokratische Partei“, die bereits seit sieben Jahren am Steuerruder des Staates steht, die Freiheit und Wirtschaft des Landes zu ersticken droht.

„Gebt eure Stimme der Paitei, die in eurem Vilayet (etwa Wahlkreis) die stärkste ist“, forderten die Führer der Opposition — falls sie nicht gerade im Gefängnis sind — das türkische Volk immer wieder auf, seit das neu herausgegebene Wahlgesetz es den Oppositionsparteien verbot, sich zu vereinigen und gemeinsam in den Wahlkampf zu gehen.

Ministerpräsident Adnan Menderes (Demokratische Partei) hatte die Gefahr klar erkannt, als er auf Grund der absoluten Majorität, welche das türkische Wahlgesetz der relativ stärksten Partei sichert, die neuen Verordnungen durchpeitschte, gegen welche die anderen Parteien bestenfalls machtlos protestieren konnten. Denn außer einem Zusammenschluß der anderen Parteien, die sich in seltener Einmütigkeit gegen den gemeinsamen Feind stellten, verbot er seinen politischen Gegnern auch, nur in einigen Wahlkreisen Listen aufzustellen, und ordnete an, daß jede Partei in allen Bezirken zur Wahl antreten müsse, um das Volk zu zersplittern und sich nach Möglichkeit doch eine relative Mehrheit zu sichern, welche ihm — wie schon erwähnt — die absolute Majorität einbringen mußte.

Fragt man aber, von wem jenes seltsame Wahlgesetz stammt, welches — unter dem Vorwand, eine stabile Regierung zu schaffen — jene Mehrheit an Mandaten automatisch sichert, so stößt man auf eine politische Pikanterie. Ismet Inönü, dem Volk unter seinem alten Namen Ismet Pascha besser bekannt, ein Mitkämpfer Atatürks, war es nämlich, der dieses Gesetz schuf, um sich und seiner „Halk“- (Volks-) Partei eine möglichst gesicherte und lange Regierungsdauer zu sichern. Aber schon im Jahre 1950 wurde er bei den damaligen Wahlen von der „Demokratischen Partei“ geschlagen und hatte sieben lange Jahre Muße und Gelegenheit, gleichsam einen Läuterungsprozeß durchzumachen. Er und seine Partei mußten es am eigenen Leib erfahren, daß Fehler und unverantwortliche Entscheidungen noch über Jahre nachwirken und gerade dann wieder ihre Schatten von einst über das Land werfen, wenn der einfache Wähler dazu aufgerufen wird, sein Vertrauensvotum abzugeben. 1945, zu einer Zeit, da der Krieg noch nicht zu Ende war und die Türkei ihre günstige Lage benützen konnte, um an der Brandfackel des Krieges ihr eigenes Süppchen zu kochen, erließ die damalige Regierung Inönü einen Steuererlaß, der Ungezählte in Schulden, Not und Lebensgefahr stürzte. Es war dies die sogenannte „Varlik vergisi“ (Besitzsteuer), von welcher alle nichtmohammedanischen Bewohner des Landes betroffen wurden, gleichgültig, ob sie nun Türken waren oder nicht. Griechen (türkischer Nationalität, die „Rum“ heißen), Armenier und Juden (was hier weniger als „Rasse“ denn als Nationalität gilt) standen unter den Geschädigten an erster Stelle, aber Oesterreicher, Schweizer, Deutsche und die Angehörigen aller anderen europäischen Völkerschaften wurden zum Teil aus Haus und Wohnung weggepfändet, wobei man ihnen nicht einmal die obligaten Konzessionen an die Menschlichkeit, nämlich TisCh und Bett, machte. Alles, alles wurde geschätzt und gepfändet. Einsprüche gegen die astronomisch hohen Steuersummen gab es nicht, und reiche Konsulate, wie das Schweizer,

welches seinen Staatsbürgern jahrelange, zinsenfreie Kredite eröffnete, waren damals selten. Wer aber nicht genug Besitz hatte, um seinen Verpflichtungen nachzukommen, wurde zum Straßenbau nach Anatolien verschickt. Nimmt es da wunder, daß die Minderheiten auch heute noch Menderes und seiner „Demokratischen Partei“ die Treue halten, obgleich das Land wirtschaftlich darniederliegt wie kaum je zuvor? Wohl hatte auch die Regierung Menderes den erwähnten Minderheiten keine allzu große Freundschaft gezeigt, aber der schwarze Tag vor zwei Jahren, welcher unter der lakonischen Bezeichnung „6. September“ in die neuere Geschichte des Landes einging, hatte keine derartig nachhaltigen Wirkungen. Wohl wurden damals in der Auseinandersetzung um Zypern Tausende von Geschäften sowie Kirchen in Istanbul, Ankara und Smyrna gestürmt und geplündert, aber man war trqtz der wohlorganisierten Aktion dennoch geneigter, die Exzesse von damals als „spontan“ zu werten, zumal eine — wenn auch schleppende und niedrige — Entschädigung ausgezahlt wurde.

So treffen sich in der Hauptsache zwei große Parteien, Halk und Demokratische Partei, die beide mit den Ereignissen der Vergangenheit belastet sind, zu denen die „Hürriyet“-Partei dazukam, welche sich von der „Demokratischen Partei" losgesagt und abgetrennt hatte, als offenbar wurde, daß diese ihren ursprünglichen Zielen untreu geworden war. Allerdings besaß die Halk-Partei Ismet Inönüs dadurch viele Sympathien, daß sie Zeit gehabt hatte, aus ihren Fehlern zu lernen, während Adnan Menderes noch mitten darin befangen und noch dazu in voller Aktion schien.

Das wirtschaftliche Tief der Türkei war ein Angelpunkt der Kritik, die mangelnde Freiheit der zweite gewesen. Nach besten Vorbildern war ein großzügiges Bauprogramm abgerollt, das auch die dunkelsten Angstträume verbitterter Pessimisten weit hinter sich ließ. Weit über 3000 Häuser wurden allein in Istanbul demoliert, wobei Unregelmäßigkeiten bei den Schätzungskommissionen eine annähernde Höhe von 200 Millionen Schilling erreichten , (der Prozeß wurde geheim geführt) und die Mieter von heute auf morgen auf die Straße gesetzt wurden, ohne daß man auch nur einen kleinen Bruchteil der benötigten Neuwohnungen bereitstellen konnte und wollte.

„Mieter, wohin wirst du morgen gehen?“ riefen deshalb die Plakate der Oppositionsparteien ins Volk und fanden Widerhall.

Die Türklira, die vor Beginn der Herrschaft der „Demokratischen Partei“ mit neun Schilling gehandelt würden war, fiel als direkte Folge eines fieberhaften Industrie- und Investierungsprogrammes bis auf 1.65 Schilling, zumal die Banknotenpresse dauernd in Tätigkeit blieb. In der gleichen Zeit stiegen die Preise auf ein Vielfaches, während es als nahezu verboten galt, von einer Teuerung zu sprechen oder zu schreiben, da Ministerpräsident Menderes nicht dieser Meinung war.

Ein Presseprozeß folgte dem anderen, während die Richter des Revisionsgerichtshofes, die sich dem neuen Kurs nicht fügen wollten, in den Ruhestand versetzt wurden. Kasim G ü 1 e k (Halk-Partei) und Osman Bölük- baschi (Hürriyet-Partei) erlangten allein dadurch, daß sie unerschrocken den Weg von einem Gerichtshof zum anderen und von einem Gefängnis ins andere antraten, beinahe den Nimbus von Volkshrroen. Und als dem letzteren während seiner Haft eine Tochter geboren wurde, gab er ihr den Namen Hürriyet (Freiheit), mit dem innigen Wunsch, der Name möchte mehr als ein bloßes Symbol sein.

So stand dieses Ziel über dem Wahlkampf der Oppositionsparteien, die von den Willkürgesetzen der Regierung zwar schwer getroffen, aber nicht vernichtet wurden. Wohl verbot die neue Bestimmung beispielsweise die Kandidatur allen jenen, die ihrer Partei nicht schon mindestens sechs Monate angehörten, aber sie konnte nicht verhindern, daß immer mehr Abgeordnete, Staatssekretäre und hohe Persönlichkeiten die „Demorafsche Partei“ verließen, auch wenn sie in keiner anderen Partei kandidieren durften, da viele die nötigen sechs Monate nicht erreichen konnten.

Es war nun schon fast gleichgültig geworden, denn die Verhältnisse hatten sich derart zugespitzt, daß keine Partei mehr nach dem Sieg strebte. Sie gingen mit dem Motto in die Wahlen, sechs Monate nach den Ueber- raschungswahlen von 1957, die von den „Demokraten“ nur deshalb vorzeitig ausgeschrieben worden waren, weil ihnen jede neue

Woche, neue Verluste brachte, freie Wahlen abzuhalten, bei denen auch das seltsame Majoritätsgesetz fallen sollte. Jeder einzelne Abgeordnete der Opposition mußte sein diesbezügliches Versprechen in ehrenwörtlicher Form abgeben und durch seine Unterschrift feierlich bekräftigen.

Weshalb Menderes und seine „Demokraten" das Rennen dennoch machten? Während die Oppositionsparteien mit gebundenen Händen dasaßen und zusehen mußten, wie man ihnen eine staatsbürgerliche Freiheit nach der anderen nahm, hatte die „laizistische" — also offiziell nicht islamische - Regierung in den verschiedenen Dörfern und Kleinstädten fünfzehntausend Moscheen aus Staatsgeldern gebaut, ließ jeden Sonntag im Rundfunk islamische Gottesdienste übertragen und zahlte den Bauern, denen die Regierung nach amerikanischem Vorbild die Ernte abkauft, immer bessere Prämien.

Der Rest war nicht mehr allzu schwer: Versprechungen („Jedem Arbeiter sein Haus“) und der massive Druck der Exekutive halfen dort,

wo man mit offenen „Korrekturen“ das Ergebnis nicht korrigieren konnte. Das Radio führte auch in der propagandafreien Zeit (drei Tage vor der Wahl) die Kampagne für die Regierung weiter, und die „Demokratische Partei“ verteilte in Ankara gefälschte Stimmzettel der Halk-Partei, um die ungültigen Stimmen zu erhöhen

In Istanbul erbrach eine Gruppe von Männern unter der Führung eines Vorbestraften 36 Wahlsäcke mit Stimmzetteln, Wahlurnen verschwanden und Wahlberechtigte schienen plötzlich nicht in den Wählerlisten auf, während andere ohne Wahlberechtigung zugelassen wurden.

Die Nacht nach der Wahl versammelte wohl an die zehntausend Menschen vor dem Hauptquartier der „Halk-Partei". Ismet Inönü und andere hohe Parteiführer gaben in- und ausländischen Journalisten bereitwillig Auskunft und standen — erfreut, wenn ein Ausländer sie türkisch ansprach — Rede und Antwort, während im Hauptquartier der „Demokraten" alle Türen fest verschlossen blieben. Adnan Menderes war für wenige Stunden nach Istanbul geflogen, wohl um dort nach dem Rechten zu sehen. Wie auch immer, jedenfalls weist — wider alles Erwarten — auch Istanbul eine „demokratische“ Mehrheit auf.

Der Morgen nach dieser durchwachten Nacht, in der halb Ankara nicht in den Betten war, verlief nüchtern. In den Straßen drängte sich das Volk wie gewohnt, aber in fast lautloser Stille. Und nur selten rief einer der Passanten finen Zeitungsjungen, um das in Massen ange- aotene Regierungsblatt zu kaufen.

Vielleicht hätte das Land seine große Chance gehabt — ein schönes und reiches Land mit :hrlichen Menschen. Außenpolitisch wird es vohl stabil bleiben, der kommunistische Ein- luß ist hier so gering wie selten anderswo n der Welt. Aber er wird seinen gefährlichen Negeiner eingeengten Freiheit, einer überwürzten Industrialisierung und einer stetig allenden Währung weitergehen. Die nüchternen inter den Türken fragen sich, ob der Mann an ler Spitze der Regierung ein Besessener einer ;roßen Idee oder ein demagogischer Diktator ist.

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