Mit Tschernobyl allein gelassen

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die furche: Herr Minister, wie präsentiert sich die Situation 15 Jahre nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl?

Wassyl Kremen: Leider sollen die Auswirkungen des Reaktorunfalls in Tschernobyl fast ausschließlich von der Ukraine allein getragen werden. Und das obwohl dieses AKW schon zu UdSSR-Zeiten gebaut und alles aus Moskau dirigiert wurde. Das größte Problem sind die riesigen Kosten, die die Ukraine zu tragen hat. Einerseits leiden sehr viele an gesundheitlichen Folgewirkungen, andererseits haben wir Tschernobyl stillgelegt und dadurch einen großen Mangel an elektrischer Energie.

die furche: Hilft Russland bei der Bewältigung der Folgekosten?

Kremen: Russland trägt keine Verantwortung und hilft auch nicht mit finanziellen Mitteln. Es gibt zwar ein Memorandum, laut dem die westlichen Staaten zu finanzieller Hilfe verpflichtet wären. Die meisten Staaten ignorieren das jedoch. Vor der Stilllegung von Tschernobyl sollten von den G7-Staaten mehr als 600 Millionen Dollar bereitgestellt werden, aber diese Verpflichtung wurde nicht erfüllt. Mit Freude kann ich jedoch sagen, dass Österreich seinen Teil der Verpflichtungen erfüllt hat.

die furche: Die finanziellen Hilfen aus dem Westen sind mit Bedingungen verknüpft. Wie stehen Sie dazu?

Kremen: Die Ukraine hat alle ihre Verpflichtungen erfüllt. Die Hauptbedingung war die Stilllegung von Tschernobyl.

die furche: Der Westen fordert auch die Stärkung demokratischer Strukturen. Im Zusammenhang mit der Ermordung des Journalisten Georgi Gongadse wurde im Europarat der Ausschluss Ihres Landes überlegt.

Kremen: Die gegenwärtige politische Lage in der Ukraine ist durch die Übergangsphase vom Totalitarismus zur Demokratie bedingt. Die Situation - was den Fall Gongadse betrifft - ist in der Ukraine selbst nicht so angespannt, wie es im Ausland dargestellt wird. Die Hauptbedrohung im Fall Gongadse sehe ich deswegen auch nicht in den destruktiven Elementen in der Ukraine, die Präsident Kutschma zu Fall bringen wollen, sondern im Schüren negativer Einstellungen bei ausländischen Politikern und in der öffentlichen Meinung im Ausland.

die furche: Was die Medienfreiheit betrifft, scheint es in der Ukraine nicht zum Besten zu stehen. Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" weist die Ukraine neben Russland als das für Journalisten gefährlichste Land aus.

Kremen: Journalisten haben Schwierigkeiten, die dadurch bedingt sind, dass es bislang nicht gelang, eine finanzielle Grundlage für ihre Tätigkeit zu schaffen. Diejenigen, die die Massenmedien finanzieren, haben einen bedeutenden Einfluss auf die Arbeit der Journalisten. Knapp zehn Jahre seit dem Ende der totalitären Vergangenheit fehlt es eben noch an öffentlichem Bewusstsein für eine unabhängige Arbeit der Journalisten. Aber auch im Bewusstsein einiger Journalisten ist der Typus des früheren Benehmens noch vorherrschend.

die furche: Beobachter diagnostizieren einen Kurswechsel in der ukrainischen Politik. Die Annäherung an den Westen soll einer Anbindung an Russland weichen. Stimmen Sie dem zu?

Kremen: Präsident, Ministerpräsident und Außenminister haben proklamiert, dass die Ukraine nur eine strategische Richtung hat, und die heißt Europa. Es gibt dazu keine Alternative. Das vorige System hat sich völlig diskreditiert. Wenn Europa aber weiter zwischen sich und der Ukraine eine Grenze aufbaut, dann kann es die Ukraine in Richtung Russland bewegen und zwar in Richtung jener russischen Politiker, die eine Union zwischen der Ukraine und Russland propagieren. Deswegen ist es nicht nur wichtig, dass die Ukraine sich ihres pro-europäischen Kurses bewusst ist, sondern auch Europa soll bekräftigen, dass die Ukraine zu Europa gehört.

die furche: Der als westlich-orientiert geltende Premier Juschtschenko ist mit einem Misstrauensvotum von Kommunisten und Oligarchen-Fraktionen konfrontiert. Präsident Kutschma hat deshalb vor einer "ernsten politischen Krise" gewarnt. Was würde Juschtschenkos Abwahl bedeuten?

Kremen: Für die nationalen Interessen der Ukraine wäre es gut, wenn Juschtschenko bis zu den Parlamentswahlen im nächsten Jahr bleibt. Das ist die erste Regierung seit der Unabhängigkeit, die ein Wirtschaftswachstum - um beachtliche sechs Prozent - geschafft hat. Juschtschenkos Abgang wäre ein Verlust.

die furche: Wie mächtig sind die durch die Umwälzungen reich gewordenen Oligarchen in Ihrem Land?

Kremen: Die Oligarchen folgen nur wirtschaftlichen Interessen. Ihre Handlungen gegenüber Juschtschenko sind dadurch bedingt. Einige Oligarchen streben danach, mehr im russischen Areal zu arbeiten, wo es weniger Demokratie und Gesetze und mehr Möglichkeiten für ihre Geschäfte gibt.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich.

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