Mitgefühl auch ein Jahr danach

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Die "Frankfurter Allgemeine“ über das neue politische Verhältnis zwischen Polen und Russland ein Jahr nach der Flugzeugkatastrophe in Smolensk.

Viele Russen hatten das Mitleiden mit Polen noch nicht vergessen, als sich am Sonntag der Absturz des polnischen Präsidentenflugzeugs bei Smolensk zum ersten Mal jährte. Am 10. April 2010 waren Präsident Lech Kaczynski, dessen Ehefrau sowie 94 führende polnische Militärs und Politiker umgekommen. In einer bis dahin kaum für möglich gehaltenen Aufwallung menschlichen Mitgefühls hatten sowohl die russische Staatsführung als auch große Teile der Bevölkerung mit den Polen getrauert, die bis dahin in den russischen Medien vielfach als eine Art "Erbfeind“ dargestellt worden waren. Am Montagnachmittag trafen sich der russische Präsident Dmitrij Medwedjew und der polnische Präsident Bronislaw Komorowski in Smolensk, besuchten die Unglücksstelle und das Mahnmal im Wald von Katyn zu Ehren polnischer Opfer des Stalinregimes.

Smolensk sollte vergangenes Jahr nur eine Zwischenstation auf der Reise Präsident Kaczynskis nach Katyn sein, wo er der mehr als 22 000 polnischen Offiziere gedenken wollte, die im Frühjahr 1940 auf Geheiß Stalins und der übrigen sowjetischen Parteiführung ermordet worden sind. Kaczynski forderte von der russischen Führung die volle Wahrheit über diesen Massenmord.

Gesamte sowjetische Führung trage Verantwortung

Schon vor der Flugzeugkatastrophe gab es in Moskau Hinweise darauf, dass mit der schlechten Tradition des Verschweigens oder Beschönigens der Stalinschen Verbrechen gebrochen werden sollte. Nach der Katastrophe von Smolensk wurde das noch deutlicher ausgesprochen. Im November verurteilte auch die Duma das Verbrechen von Katyn und die übrigen Massenmorde, die insgesamt fast 22 000 Polen aus der zivilen und militärischen Führungsschicht das Leben kosteten. Die Morde seien persönlich von Stalin befohlen worden.

Medwedjew sagte nun in Smolensk, die gesamte sowjetische Führung jener Zeit habe die Verantwortung für die Verbrechen getragen. Im russischen Strafprozess wegen der Morde in Katyn, der 2004 eingestellt wurde, war noch versucht worden, Stalin und das Politbüro zu entlasten und die ganze Verantwortung allein der Führung des NKWD anzulasten.

Erinnerungspolitik ohne Scheuklappen

Die Forderung russischer Bürgerrechtler und der Nachkommen ermordeter Polen ist noch nicht erfüllt, die Opfer der Verfolgung durch das Stalinregime offiziell auch als solche anzuerkennen. Die Bürgerrechtler verlangen darüber hinaus, auch juristisch mit einer Verurteilung des Regimes einen Schlussstrich zu ziehen. Im Rat für die Entwicklung der demokratischen Institutionen und der Zivilgesellschaft beim russischen Präsidenten scheint man diesen Forderungen nicht abgeneigt. Von da wäre es zur Verurteilung der Sowjetunion als Unrechtsstaat kein weiter Weg mehr. Das aber dürfte zumindest bei Teilen der Bevölkerung und der politischen Klasse Russlands auf Widerstand stoßen.

Erinnerungspolitik ohne Scheuklappen - ein Beispiel dafür ist ein dicker Foliant polnischer und russischer Historiker über "Weiße und schwarze Flecken“ in der Beziehungsgeschichte, den die "Polnisch-russische Gruppe zur Aufarbeitung schwieriger Fragen“ kürzlich vorlegte - hat auch der politischen Verständigung zwischen Warschau und Moskau den Weg geebnet. Dazu fügt sich die Errichtung eines polnisch-russischen Dialogzentrums beim polnischen Präsidenten. Russland versucht, für seine Interessen in der EU in dem wichtigen Mitgliedstaat Polen zu werben. In Smolensk vereinbarten beide Seiten, die Wirtschaftsbeziehungen anzukurbeln.

* Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. April 2011

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