6731508-1965_51_06.jpg
Digital In Arbeit

„Monsieur 44 Prozent“

Werbung
Werbung
Werbung

Die Wahlbeteiligung für die erste Runde der Präsidentenwahlen war überraschend viel stärker, als es der müde und lustlose Wahlkampf vermuten ließ. Von rund 29 Millionen Wahlberechtigten gaben 24 Millionen ihre Stimme ab. General de Gaulle erhielt mit 10,811.480 Stimmen 44,61 Prozent, cjer Kandidat der Linken, Francops Mitterrand, mit 7,688.105 Stimmen 81,72 Prozent, der Repräsentant der Mitte, der Volksrepublikaner Jean Lecanuet, mit 3,777.945 Stimmen 15,59 Prozent, und der Wortführer der äußersten Rechten, Rechtsanwalt Tixier-Vignancour, mit 1,257.633 Stimmen 5,20 Prozent. Die beiden anderen Kandidaten erhielten 2,88 Prozent der restlichen Stimmen. Durch dieses Ergebnis, das nicht nur im Ausland, sondern auch in Frankreich selbst einige Uber-raschung auslöste, ist die Stichwahl am 19. Dezember notwendig geworden.

Inzwischen ist bekanntgeworden, daß sich — wie der Korrespondent auch vorausgesagt hat — der General der Stichwahl stellen und im neuangefachten Wahlkampf aus der stolzen Gleichgültigkeit des seiner Sache sicheren und über den Niederungen der politischen Kämpfe stehenden „großen Mannes“ heraustreten und nunmehr eine starke Werbeaktivität entwickeln will.

Die Prognostiker rechnen übereinstimmend mit seiner Wiederwahl, wenn sie auch angesichts der neuaufgetauchten zahlreichen Fragezeichen hinsichtlich der Haltung der Wähler, die sich nun vor die Alternative de Gaulle-Mitterrand gestellt sehen, die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß der Sieg des jetzigen Präsidenten der Republik nur wenige Prozent ausmachen könnte. Man führt 5 bis 10 Prozent ins Feld.

Welche Hypothesen lassen sich nun aus dem Wahlergebnis vom 5. Dezember für die Stichwahl am 19. Dezember ableiten? Rein arithmetische Rückschlüsse erscheinen uns deshalb als abwegig, weil niemand voraussehen kann, ob die Rechtsradikalen der Aufforderung ihres „Führers“, Tixier-Vignancour, dem jedes Mittel recht ist, um den General aus dem Elysee hinauszudrängen, geschlossen für Mitterrand zu stimmen, Folge leisten werden. Als nicht minder gewagt erachten wir die vielfach verbreitete Annahme, daß rund die Hälfte der Wähler Lecanuets nunmehr dem Kandidat der Linken zufallen dürften.

Ein Pyrrhussieg?

Aber gerade angesichts solcher Unbekannten scheint die Vermutung erlaubt, daß der General sehr Inj Gedränge kommen und sein wahrscheinlicher Sieg ein Pyrrhussiei sein wird, falls es ihm in der verbleibenden kurzen Frist nicht gelingt, durch eine besonders geschickte und massenwirksame Werbung das Heer der unentschlossener Zufallswähler auf seine Seite hinüberzuziehen. Das rein strategische Element und seine Handhabuni bleibt mithin eine der wesentlichster Unbekannten in diesem Spiel urr das Schicksal der künftigen Orientierung Frankreichs.

Eines ist jedoch sicher: Das persönliche Prestige des Generals ha' eine empfindliche Einbuße erhalten „Monsieur 44 Prozent“ — wie mar ihn unmittelbar nach dem erster Wahlgang in den Korridoren dei regierungsabhängigen Rundfunk-und Fernsehanstalt ORTF scherzhaft nannte — wird sich nicht mehr gutgläubig und unvoreingenommen di „Inkarnation Frankreichs“ nenner können, nachdem ihm sein unbedachtes Wort „Ich oder das Chaos' so übel mitgespielt hat. Es hieß aber schon zu weit gehen, wollt man damit eine Prognose hinsichtlich konkreter Konsequenzen verbinden, die er aus der Tatsache dei demonstrativen Verminderung seinei Autorität ziehen könnte. Wer seir Wesen kennt, wird kaum annehmen daß er von einer politischen Lini abrücken könnte, zu der er sich während des zu Ende gehenden Septen-nats bekannt hat. Er wird niemals eine Niederlage auch nur implicit eingestehen. Dies gilt nicht allein füi die Politik, sondern im gleichen Ausmaß auch von der Wirtschaft, obwohl offensichtlich ist, daß die Erschütterung seiner Position im ersten Wahlgang zu einem guten Teil auch wirtschaftlich und sozial bedingt war.

Bauernopfer

Gerüchte, daß Landwirtschaftsminister Edgar Pisani und Finanzminister Gtiiscard d'Estaing demnächst vom Staatschef fallen gelassen würden, gehören mithin — ebenso wie die Unterstellung, daß Premierminister Pompidou in naher Zukunft in die Wüste geschickt werde — in den Bereich der Spekulation. Anderseits ist es einfach nicht vorstellbar, daß der General das hartnäckige Festhalten an der wirtschaftlichen und finanziellen Kontinuität so weit treiben könnte, daß er das Phänomen einer Versteifung der landwirtschaftlichen Bevölkerung ihm gegenüber übersehen könnte: Es ist gewiß kein Zufall, daß zwanzig Departements, in denen Mitterrand eine stimmenmäßig stärkere Position als de Gaulle hatte — mit zwei Ausnahmen —, vornehmlich eine landwirtschaftliche Bevölkerung aufweisen. Damit dürfte erwiesen sein, daß die Aufforderung der französischen Agrarorganisationen, nicht für den Kandidaten des Regimes einzutreten, bei zahlreichen Landwirten ein positives Echo gefunden hat. Man kann den Agrarsektor noch so sehr aus der Überzeugung, daß ihm die Zukunft nicht gehört und er quasi aus Pietät „mit durchgeschleppt“ wird, über die Schulter ansehen — gegenüber der Tatsache, daß er mehrere Millionen Wähler repräsentiert, die einst zur treuen gaullistischen Garde gehörten, kann man seine Augen nicht verschließen.

Man kann auch nicht übersehen, daß die industriellen Unternehmer — sowohl Vertreter und Wortführer großer als auch kleiner Betriebe — in ihrer Mehrheit schlecht auf das gegenwärtige Regime zu sprechen sind. Ihr Groll, nicht investieren zu können, ist derart ausgeprägt, daß viele bereit scheinen, selbst mit dem Teufel zu paktieren, wenn sie eine Ablösung im Elysee erreichen könnten. So hat der Vizepräsident des französischen Arbeitgeberverbandes, Bernard Jousset, in diesen Tagen einem bekannten Pressevertreter geschrieben, er werde bei der Stichwahl seine Stimme Francois Mitterrand geben.

„Antigaullismus“ als Basis?

Niemand wird in Abrede stellen, daß de Gaulles Gegenspieler am 19. Dezember — sollten ihm die Stimmen der Rechtsextremisten und vieler Franzosen, deren eigentliche politische Heimat das Zentrum ist, zufallen — ein sehr heterogenes Konglomerat repräsentieren wird, dessen einziges Bindeglied der uneingeschränkte Antigaullismus ist. Kein ernsthafter Beobachter wird übersehen können, daß dieses seltsame, von Volksfrontelementen mit getragene Gemisch, das ihn auf den Schild gehoben hat, vor allem wegen der Beteiligung der Kommunisten in zahlreichen Kreisen des Landes Mißtrauen erregen muß. Doch de Gaulle und seine Umgebung müßten schon von allen Göttern verlassen sein, wenn sie es ablehnen sollten, den Blick über den Horizont des Wahltags hinaus zu richten. Sie können einfach ihre Augen gegenüber der Perspektive nicht verschließen, daß die Bewußtwerdung eines starken oppositionellen Blocks — ohne Rücksicht auf den Wahlausgang — schon in den kommenden Monaten zu einer Verhärtung des sozialen Klimas, verbunden mit massiven Forderungen der Arbeitnehmer, führen muß. Allein mit negativen Mitteln und aggressiver Propaganda wird die sich schon jetzt abzeichnende Strömung nicht zu bekämpfen sein, auch wenn die massive Beschwörung der kommunistischen Gefahr, auf die sich die gaullistischen Hauptquartiere bereits einstellen, manchen potentiellen Mitterrand-Wähler erneut dem General zuführen dürfte.

Die Erschütterung des Gaullismus hat ihren Ursprung nicht etwa in einer Erstarkung des Linkselements oder gar der Parteigänger Moskaus in Frankreich — die Kommunisten haben in den letzten Jahren die charakteristischen Eigenschaften des den Bürger schreckenden Popanzes verloren —, sondern vielmehr in der sichtbaren progressiven Abnahme derjenigen, die die Politik des Generals billigen: 1958 stimmten noch 79,25 Prozent für seine Politik; 1962 waren es nur noch 61,75 Prozent, und das letzte Wahlergebnis von 1965 weist lediglich noch 44,61 Prozent Anhänger des Generals aus. Es wäre fatal, wenn sich das gegenwärtige Regime darauf beschränken sollte, diese für den Gaullismus ernste Entwicklung ausschließlich dadurch zu kompensieren, daß es die Verluste des Linkselements in Frankreich gegenüber früheren Jahren herausstreicht, die der Stimmenanteil Mitterrands im ersten Wahlgang vom

5. Dezember effektiv widerspiegelt. Mag der Charakter der antigaullistischen, linksorientierten Strömung noch so problematisch sein — der Umstand, daß sie sich formiert und manifestiert, schließt die Möglichkeit einer Lawinenwirkung nicht aus, wenn sie im wirtschaftlichen und sozialen Bereich weiterhin einen günstigen Entwicklungsboden vorfindet.

Brüssel: Verfrühte Freudenfeuer

Schließlich wird sich der Staatschef noch mit der Verhärtung auf außenpolitischer Ebene auseinanderzusetzen haben. Mögen auch die „Europäer“ in Brüssel ihre Freudenfeuer etwas verfrüht entzündet haben, so steht doch außer Frage, daß im diplomatischen Sektor nicht nur Frankreichs EWG-Partner in Zukunft weniger nachgiebig sein werden, als sie es in der Vergangenheit waren.

Der abtrünnig gewordene Wähler denkt in erster Linie materialistisch. In seinen Augen ist Europa keine gleichwie geartete Ideologie, kein politisch und humanitär erstrebenswertes Fernziel, sondern die Aussicht auf eine individuelle Prosperität. Diese Vorstellung hat in Frankreich offensichtlich bei vielen Wählern Wurzeln gefaßt.

Manche außenpolitischen Beobachter, die sich in den Gedankengängen des Präsidenten der Republik auszukennen glauben, halten es angesichts der neugeschaffenen Lage für wahrscheinlich, daß er als Empiriker und unter Vermeidung eines auch nur geringen Anscheins einer Konzession in absehbarer Zeit nach einem Vorwand suchen werde, um sich von Moskau wieder zu entfernen, nachdem die auf die Dezemberwahl abgestimmte französischsowjetische Annäherung seine innenpolitische Spekulation als Irrtum und Trugschluß offenbart hatte: In der Tat hat das Gros der französischen Kommunisten nicht für ihn gestimmt.

Munition für den zweiten Wahlgang

Doch noch ist man nicht so weit. Zunächst sammeln die Gaullisten Munition für den zweiten Wahlgang, in dem der General — wie wir schon anfangs sagten — diesmal von seinem Recht, insgesamt zwei Stunden im Fernsehen zu erscheinen, in vollem Umfang Gebrauch machen will. Inzwischen ist davon die Rede, daß im Herzen der UNR-Führung (Gaullistenpartei) eine beträchtliche Spannung herrschen soll, deren Ausstrahlungen selbst den Premierminister nicht verschonen. Es heißt in diesem Zusammenhang, daß der ehemalige Premierminister Michel Debre, der in den letzten Monaten stärker in den Vordergrund der politischen Öffentlichkeit gerückt ist, seinem Nachfolger bittere Vorwürfe mache, die zentralistische Bewegung Lecanuets zugelassen zu haben, die sich bereits in naher Zukunft zu einem Auffangbecken für enttäuschte Gaullisten entwickeln könnte. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, daß ein gaullistisches Mitglied der Nationalversammlung, der Abgeordnete Durbet, den General in einem offenen Zeitungsartikel zum Rücktritt aufforderte.

Durbet soll nicht der einzige Gaullist sein, dem es ein Anliegen ist, den Nimbus des alten Mannes zu retten, der als historische Erscheinung und Symbol die Hochachtung aller Franzosen genießt, der jedoch angesichts der Selbstüberschätzung seines Prestiges im Bereich der Gegenwartspolitik darauf und daran ist, zu einer umstrittenen Größe zu werden. Auch seine vermutliche Wiederwahl zu einem neuen Septen-nat wird an der Tatsache nichts ändern können, daß mit dem 5. Dezember 1965 eine umwälzende Wendung in der Geschichte der französischen Politik erfolgte, deren Auswirkungen sich erst zeigen werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung