6647728-1958_34_05.jpg
Digital In Arbeit

Moskau und die Araber

Werbung
Werbung
Werbung

Es sind etwas mehr als hundert Jahre her, seitdem der sogenannte Krimkrieg, auch Orientkrieg genannt, mit dem Fall der Festung Sebastopol beendet wurde. Dieser Krieg war ausgebrochen, weil im Nahen Orient, vor allem in der sogenannten Levante (Palästina, Syrien und Libanon), der „weiße Zar“ in St. Petersburg die ausschlaggebende Großmacht sein wollte. Instrument und Vorwand zur Kriegserklärung war für die damaligen Westmäehte der russische Anspruch auf die Ausübung der Schutzherrschaft über alle orthodoxen und armenischen Christen in diesem Gebiet. Der Konflikt begann ja auch mit einem Streit der Mönche in Jerusalem, in welchem sich Zar Nikolaus I. über den Kopf des Sultans hinweg einmischte. Doch mit diesem Orientkrieg war nicht nur für beinahe ein Jahrhundert der russische Einfluß im östlichen Teile des Mittelmeergebietes zurückgedrängt, sondern auch ein halbes Jahrhundert der russischen Domination über die europäische Politik beendigt worden. Nicht umsonst standen trotz dem kleinlichen Vorwand mit Ausnahme Preußens alle Staaten Europas damals gegen Rußland.

Der Krimkrieg zeigte jedoch auch das erstemal in der Geschichte die strategische Bedeutung des Mittelmeergebietes für Rußland. Denn es ist damals offenbar geworden, daß die Küste des Schwarzen Meeres der „weiche Bauch“ des großen russischen Reiches war. In beiden Weltkriegen fiel dann auch Sebastcpol und mit ihm Südrußland in die Hände des russischen Gegners.

Diese geschichtlichen Erfahrungen sind es vor allem, welche den neueren Versuch Rußlands, im Nahen Orient wiederum politisch Fuß zu fassen, zur Hauptsache veranlassen. War es vor hundert Jahren die Schutzherrschaft über die griechischen und armenischen Christen, welche die ideologische Grundlage für ihre Intervention abgeben mußte, so ist es heute die marxistische Theorie von der historischen Pflicht, koloniale und halbkoloniale Völker in ihrem Kampf um die Unabhängigkeit zu unterstützen. Das ist durchaus keine neue Theorie. Schon Lenin hat die materialistische Geschichtsauffassung Karl

Marx' bis zur Primitivität vereinfacht und damit zu einer praktischen Anleitung für die russische Politik in Vorderasien gemacht. Von andern beherrschte oder wirtschaftlich ausgebeutete Völker müssen nach dieser Theorie zuerst einmal die nationale Freiheit erlangen, sich wirtschaftlich unabhängig entwickeln, um erst dann, wenn sie ein eigenes Industrieproletariat besitzen, für eine soziale kommunistische Revolution reif zu werden. Nach dieser Lehre ist der Nationalismus in Europa oder Amerika reaktionär, dagegen in Asien oder Afrika fortschrittlich.

Genau nach diesem Rezept handelte Lenin schon 1918. Denn er ließ damals aus Persien die russischen Truppen, selbst die eingedrungenen roten Streitkräfte, zurückkehren und schloß ein Bündnis mit der reichen Kaufmannschaft Nordpersiens, damals die führende Schicht des iranischen Nationalismus. Diese nordpersischen Kaufleute finanzierten den Hauptmann Resa Khan, der direkt mit russischer Unterstützung an der Spitze seiner Schwadron in Teheran einrückte. Auch Kemal Pascha, der sich später Atatürk nannte, stützte sich in seinem Kampfe gegen die siegreiche Entente und die Griechen auf das bolschewistische Rußland. Mit russischen Gewehren und Geschützen vertrieb Resa Khan die Engländer aus Persien und Atatürk aus Anatolien die Griechen. Als König Amanullah von Afghanistan, wieder gestützt auf die wohlhabende nationalistische Kaufmannschaft, im Kampfe gegen die Feudalherren und Stammesführer seine Reformen begann, erklärte ihn Moskau zum „Peter dem Großen von Afghanistan“ und gewährte ihm politische wie materielle Unterstützung. Während das Bürgertum in Rußland selbst blutig ausgerottet wurde, war die nationalistische Bourgeoisie Asiens der Bundesgenosse und Schützling des sowjetischen Proletariates. Das ist eben marxistische Dialektik. Und dieser Dialektik opferte man auch bereitwillig die wenigen Gesinnungsgenossen, das heißt Kommunisten in den erwähnten Ländern. So tat es der russisch-persischen Freundschaft absolut keinen Abbruch, wenn Resa Khan, nunmehr Diktator des Iran, die persischen Kommunisten an die Wand stellte. Vielmehr löste Moskau damals für vorübergehend die Kommunistische Partei im Iran auf. Noch radikaler verfuhr Atatürk mit den Kommunisten seines Landes. Er verhaftete alle samt und sonders, verlud sie auf Barkea und ließ diese im Schwarzen Meer versenken. Der russisch-türkischen Freundschaft tat das ebenfalls keinen Abbruch.

Mit ihrer Politik erreichte damals die Sowjetregierung, daß die englischen Truppen aus Persien abzogen und die russisch-persische Grenze gesichert wurde, was die Sowjetisierung Transkaukasiens gewaltig erleichterte. Aehnlich verhielt es sich mit der nationalistischen Revolution Atatürks in der Türkei. Zwischen die damaligen aktiven Gegner des Sowjetregimes, England und Frankreich, legte sich die siegreiche nationalistische Türkei, die eineinhalb Jahrzehnte Bundesgenosse Moskaus blieb. Während dieser Zeit konsolidierte sich das Sowjetsystem.

Unrichtig wäre die Annahme, daß man im Kreml die Erfahrungen des Zarismus im Nahen Osten sowie die eigenen im Verhältnis zu den asiatischen Völkern vergessen hat. Man kennt dort die Grenzen des Zusammengehens mit den asiatischen Nationalismen sehr gut. Sie sind eben, nach dem Leninschen Ausdruck, Weggenossen, deren Interessen solange mit denen Moskaus identisch sind, bis sie selbst befestigt dastehen und ein neues Verhältnis zu den europäischen Großmächten und zu den USA gewinnen.

Was die Einflußnahme im Mittleren Orient betrifft, so hat die Sowjetunion sehr intensiv und nicht ungeschickt den Boden für sich vorbereitet. Der Zarismus stützte sich einst in diesen Gebieten auf die griechisch-orthodoxen sowie die armenisch-gregorianischen Gläubigen und versuchte darüber hinaus auch Einfluß auf verwandte christliche Konfessionen, wie zum Beispiel die Kopten oder die Kirche des heiligen Johanne in Abessinien, Einfluß zu gewinnen. Sie bildeten die christliche Minderheit im Nahen Osten. Eben ihr Gegensatz zur mohammedanischen Majorität gab für die Zaren den Rechtsgrund für ihre Einflußnahme ab. Die Schutzbedürftigkeit der Christen unter mohammedanischer Herrschaft war so die totale Grundlage der zaristischen Außenpolitik sowohl suf .dem Balkan als auch im Nahen und Mittleren Orient.

Diese Beziehungen zur christlichen Bevölkerung hat die Sowjetunion nach dem zweiten Weltkrieg auf ihre Art wiederaufgenommen. Sie stellte dem Patriarchat der russisch-orthodoxen Kirche Rußlands reichliche Mittel zur Verfügung, um in Nahost zu operieren.

So wertvoll auch die Einflußnahme über die kirchlichen Organe der orthodoxen Christenheit ist, so ist doch heute die sowjetische Nahostpolitik nicht allein auf den Gegensatz zwischen Christentum und Mohammedanismus abgestützt. Ebenso wichtig ist für die Kremldiplomatie das nationale Moment, das heißt, die nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen der arabischen Staaten Syrien, Irak, Jordanien, Libanon und Aegypten. Dabei tritt Rußland das erstemal in der Geschichte selbst als mohammedanischer Machtfaktor auf. Die Voraussetzung hierzu ist jenes weite Gebiet der Sowjetunion, das von uns als Zentralasien bezeichnet wird und eine starke mohammedanische Bevölkerung — mit anderen islamischen Gruppen zwischen 30 und 40 Millionen — aufweist. Dieser zentralasiatische Mohammedanismus leistet, ähnlich wie die Orthodoxe Kirche,“ der Sowjetdiplomatie, wertvolle Vorarbeit. Denn dieser zentralasiatische Mohammedanismus erscheint bei ihrer überaus großen Rückständigkeit den benachbarten asiatischen Völkern lockendes Ziel der eigenen Bestrebungen.

Die Politik, welche Moskau in Zentralasien betreibt, ist eine höchst eigenartige. Es weckt daselbst zunächst den Nationalismus der einzelnen Völkerschaften, vor allem der Usbeken, Tadschiken und Turkmenen. Vor allen Dingen spielen die Usbeken eine große Rolle.

Seit Jahrhunderten genießen Samarkand und Buchara einen hohen Ruf der Heiligkeit in der islamischen Welt. Durch die Gründung eigener Sowjetrepubliken für die genannten Völkerschaften und die gleichzeitige Organisation der mohammedanischen Konfession daselbst, gelang es dem Kreml, Nationalismus und Islam miteinander zu verbünden. Bekanntlich scheiterte einst das türkische Großreich eben an dem Gegensatz zwischen dem absoluten religiösen Anspruch des Kalifates in Istanbul und den nationalen Forderungen der Araber. Das ist gerade das, was die Araber benötigen, ein national gefärbter Islam. Das erstemal in der

Geschichte des Islams sind in der Sowjetunion moderne kirchliche Organisationen für die mohammedanischen Gläubigen errichtet worden. Besonders gut ausgebaut ist die „Verwaltung“ der Mohammedaner Zentralasiens und Ka-sakstans mit ihren Bevollmächtigten in den fünf mohammedanischen Bundesrepubliken, ihren Schulen und ihrer großen und sehr gut ausgebauten theologischen Hochschule in Buchara. Da auch die sowjetische Akademie der Wissenschaften in Taschkent gewaltige Leistungen in sprachwissenschaftlicher, geschichtlicher und religionsgeschichtlicher Forschung zu verzeichnen hat, ist sie für die arabischen Nationalisten auch hierin ein kulturell geistiger Anziehungspunkt.

Die mohammedanische Geistlichkeit Zentralasiens ist durch die Entwicklung, wenn man sich so ausdrücken kann, modernistisch geworden. Sie verbindet die Lehren des Korans mit den Anforderungen des modernen industriellen Lebens. Auch dadurch wird Zentralasien als Vorbild für arabische Nationalisten. Sehr frühzeitig hat nun der Kreml den mohammedanischen Klerus Zentralasiens animiert, mit dem Nahen Osten Kontakte zu suchen. Tatsächlich ist heute der Verkehr ein sehr intensiver, und schon vor Jahren wurde das Oberhaupt des zentralasiatischen Islams mit einem Ehrendoktorat der mohammedanischen Hochschule in Damaskus ausgezeichnet. Es ist paradox, doch es ist so, daß die Geistlichkeit verschiedener Konfessionen stimmungsmäßig die Grundlage schuf, die zur Bundesgenossenschaft zwischen den arabischen Nationalisten und dem Kreml führte.

Wir haben bereits erwähnt, daß sich der Kreml durchaus der sachlichen und zeitlichen Grenzen dieser Bundesgenossenschaft bewußt ist. Wenn für sie theoretisch der siegreiche Nationalismus nur die Vorstufe dafür ist, damit später nach Jahrzehnten in diesen Gebieten eine kommunistische Revolution sich durchsetzen kann, so stellt sich die praktische Sowjetpolitik heute viel nähere Ziele. Trotz des gewaltigen Propagandaaufwandes sind diese Ziele ziemlich bescheiden. Ebenso wie das zaristische Rußland will auch die Sowjetunion zunächst ein Mitspracherecht im Mittleren Orient haben. Darüber hinaus wird kaum viel mehr erstrebt. Denn man scheut in Moskau allzu enge Bindungen, welche die Sowjetunion mit Verpflichtungen be-haften können, die die Kontrolle über die eigene Außenpolitik gefährden könnten. So ist es im Grunde genommen ein recht beschränktes Ziel, das unmittelbar angestrebt wird. Die Russen versuchen, im Mittleren Orient sich einen gewissen politischen Einfluß zu sichern nur mit dem einzigen Zweck, damit nicht die Amerikaner daselbst sich festsetzen. Es ist also eine ähnliche Politik wie vor 40 Jahren in Persien und in der Türkei. Der Mittlere Orient ist eben die strategische Basis für einen Angriff gegen den „weichen Bauch“ Rußlands, das russische Schwarzmeergebiet und die Ukraine. Es soll verhindert werden, daß die Amerikaner hier im Vorderen Orient ihre Stützpunkte errichten, soweit sie bereits solche besitzen, sollen sie daraus verdrängt werden. Das Instrument dazu ist der arabische Nationalismus. Das letzte Ziel jedoch ist die endgültige Neutralisierung des Nahen Ostens im Kampfe der beiden Machtblöcke.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung