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Nach den Sejmwahlen

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Man hat den Sejmwahlen vom 16. April mit weit geringerer Spannung entgegengesehen als den vorangegangenen im Jahre 1957. Damals handelte es sich darum, festzustellen, inwieweit das im „Polnischen Oktober“ an die Macht gelangte Regime Gomulkas auf die Unterstützung der Nation rechnen durfte.

In den vier Jahren, die seit damals verflossen sind, haben sich die „Dogmatiker“, zum mindesten äußerlich, mit Gomutka ausgesöhnt — oder abgefunden — und mit Ausnahme ihrer ersten Garnitur sind die meisten früheren Würdenträger der Bierut-Ära auf irgendwelche gute Posten zurückgekehrt. Dagegen hat sich das Verhältnis zwischen Staat und Kirche sehr verschlechtert. Diesmal ist von seiten der Hierarchie große Zurückhaltung bewahrt worden. Das Klima der Beziehungen zur weltlichen Gewalt ist gar kühl geworden. Einheimische und fremde Beobachter waren darüber erstaunt, daß die kommunistischen Machthaber gerade in den letzten Monaten vor der Sejmwahl nichts taten, um mit dem Episkopat wieder auf leidlichen Fuß zu kommen und alles, um die Hierarchie und die Massen der Gläubigen vor den Kopf zu stoßen. Man fragte sich nach den Ursachen dieser Taktik. Die einen rieten auf strengen Befehl aus Moskau — der uns unwahrscheinlich dünkt —: die anderen aber meinten, das Regime fühle sich kräftig genug, um auf die Hilfe seiner weltanschaulichen Gegner zu verzichten, und es wolle eine Probe unternehmen, ob es auch ohne, ja gegen die Hierarchie einen Wahlerfolg im vorigen Umfang erzielen könne.

Wenn die zweite Hypothese zutrifft, und der Anschein spricht für deren Richtigkeit, dann ist das Experiment geglückt: das heißt, es sieht so aus, als hätten die Massen der Gläubigen, die nach wie vor die erdrückende Majorität des polnischen Volkes ausmachen, ungeachtet der beantragten Aufhebung des Religionsunterrichtes an de» Schulen, der Förderung der „bewußten Mutterschaft“, der atheistischen Propaganda,’für’dast’ Regime gestimmt. Diesmal sind sogar 94,83 Prozent der Berechtigten dem Ruf zur Urne gefolgt. Davon entschieden sich 98,34 Prozent für die Einheitsliste. Ohne daß wir wüßten, ob für diese auch die fünfzehn Oberhirten votierten, deren Erscheinen im Wahllokal mit Sicherheit festgestellt wurde, verdient die bloße Tatsache ihrer Teilnahme an der Kür des neuen Sejms Beachtung.

Von der Kirche ins Wahllokal

Bei näherer Betrachtung liegen indessen die Dinge nicht so einfach. Zwar hat das Regime ohne sichtbare offizielle Förderung durch den Episkopat seinen Wahlerfolg errungen — in Polen wäre durchaus ein massives Fernbleiben von der Wahl möglich gewesen, wie das zum Beispiel das Ergebnis in Oppeln beweist, wo ein unpopulärer Kandidat „nur“ 79 Prozent der Stimmen bekam —; Gomulka selbst tat mit 99,54 Prozent den höchsten Prozentsatz an Voten erhalten; endlich haben sich wiederum elf katholische Kandidaten auf die Einheitsliste ;etzen lassen. Allerdings sind darunter nur mehr fünf der völlig mit der Hierarchie verknüpften Gruppe „Znak", drei von der „Pax“ und ebensoviel tus einer zweiten mit dieser konkur- ierenden Kollaboranten-Organisation. Wir müssen indessen einen Blick hinter die Kulissen werfen, um den Inumph Gomulkas auf das richtige Maß zu reduzieren.

Sein Erfolg darf und kann nicht geleugnet werden. Er ist vor allem tuf die Überzeugung der breiten schichten wie der Elite zurückzuführen, daß ein Kampf gegen das Regime tnter den gegenwärtigen Umständen aussichtslos und daß ein Beiseitebleiben den Gesamtinteressen der Mation schädlich wäre. Abgeordneter stomma, der politische Vertrauensmann des Primas und Führer des „Znak“, hat das in einem denkwürdigen Artikel vom 26. März (Tygodnik Powszechny Nr. 13) nüchtern dargelegt. Die Katholiken durften offen zu diesem Thema sprechen. Ihrem kommunistischen Widerpart ist das nicht möglich. Die mannigfachsten Rücksichten verbieten der Parteileitung der PZPR offen das zu erklären, was sie in einer vertraulichen, durch unbeabsichtigte oder gewollte Indiskretion zur Kenntnis Unberufener gelangten, Weisung an ihre Apparatschiki vom 29. März d. J. mitgeteilt haben: daß sie sich von der Kirche keine politische Opposition erwarten und daß man infolgedessen keine ernstlichen Kulturkampfhandlungen veranstalten möge.

So ist es zuletzt dennoch dazu gekommen, daß die antiklerikale Propagandawelle wieder abflaute, daß zahlreiche Geistliche in ihrer Predigt am Wahlsonntag zur Erfüllung der Staatsbürgerpflicht, also faktisch zur Stimmenabgabe zugunsten der offiziellen Einheitsliste aufforderten und daß sich ein nur in Polen denkbares Paradox den überraschten westlichen Zeitungskorrespondenten darbot: nach dem Gottesdienst zogen die Gläubigen in langen Reihen zur Urne, ohne daß von irgendeinem Druck der Behörden etwas zu merken war. Der „Wahlkampf“ ohne Gegner, der eigentlich nur wider die Stimmunlusti- gen geführt wurde, hatte sich in völliger Ruhe, doch bei sehr zahlreicher Beteiligung an den Versammlungen abgespielt, bei denen die von vornherein ihres Mandats sicheren Kandidaten den Wählern Rede und Antwort standen. Die Polen haben sich an die Eigenart ihres Parlamentarismus gewöhnt, die ihnen durch Presse und Rundfunk, vor allem aber durch die Sejmmitglieder, eingehämmert wurde: daß die Volksvertretung keinerlei politische Initiative zu entfalten habe, doch die Verwaltung kontrollieren solle, der Regierung Anregungen übermitteln dürfe und endlich, daß jedem Abgeordneten die Gelegenheit zur persönlichen Intervention zustehe, um Übergriffe mittlerer oder untergeordneter Beamter abzustellen, und Beschwerden der Wähler zu unterstützen.

Interessante Prozente

So ist denn der vierte Reichstag den Urnen entstiegen. Alle an den vordersten Plätzen der Einheitsliste erscheinenden Bewerber sind gewählt worden. Itjimerhin liefert der Prozentsatz der ihnen zugefallenen Stimmen ein Kriterium für ihre persönliche Beliebtheit und auch für den Umfang der Sympathien, die das Regime in einzelnen Gegenden genießt. So wird man den „geringen“ Prozentsatz der Abstimmenden (90 bis 92 Prozent) im einstigen Westgalizien (Wahlkreise Nowy S§cz, Tarnow, Wadowice) ebenso anmerken wie die hohen Zahlen zugunsten des Regimes in den Industriebezirken der Westgebiete (Katowice, Sosnowiec, Dabrowa, Görnicza, Chorzöw, Beuten, Neiße, Stettin) und in Warschau. Sehr zu unterstreichen ist die Bevorzugung, deren sich überall die als katholisch bezeichneten Kandidaten zu erfreuen hatten. Einer lei, welcher der drei Gruppen sie angehören, ob dem „Znak", der „Pax oder der aus dieser ausgeschiedenen „Christlichsozialen Vereinigung", sie überrundeten ihre kommunistischen Mitbewerber. So mußte sich zum Beispiel Ministerpräsident Cyrankiewicz in Krakau-Stadt mit 93,32 Prozent begnügen, während der Vormann des „Znak“, Stomma, 96,45 Prozent erhielt, und ein Veteran des Maxismus, Drobner, der noch im österreichischen Galizien die rote Fahne geschwungen hatte, 88,32 Prozent auf sich vereinte. In dem zur Industriestadt gewordenen berühmten Wallfahrtsort Czstochowa kommt der katholische Kandidat Graf Embienski gleichfalls an der Spitze, mit 97,15 Prozent.

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