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Nachgeholte Revolutionen

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In Serbien und Bulgarien zielen die Massenproteste auf das überkommene politische System, in Albanien ist es (noch?) nicht ganz so weit.

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In Serbien und Bulgarien zielen die Massenproteste auf das überkommene politische System, in Albanien ist es (noch?) nicht ganz so weit.

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In Belgrad hat sich die Opposition durchgesetzt, und Milosevic hat schließlich den Sieg der Oppositionsparteien bei den Kommunalwahlen im November anerkannt. In Sofia ist es den demonstrierenden Massen zusammen mit dem neuen Staatspräsidenten Petar Stojanov gelungen, die alte „sozialistische” Regierung zum Rücktritt zu zwingen, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. In Bosnien-Herzegowina ist durch die Verschiebung des endgültigen Schiedsspruches über die Stadt Brcko um ein Jahr der Ausbruch neuer Kämpfe zwischen Serben und (muslimischen) Bosniern vermieden worden. In Albanien richtet sich die Wut der Zehntausenden über ihren finanziellen Ruin durch zweifelhafte Anleger-Firmen immer mehr auch gegen die Regierung und das Regime des Präsidenten Sali Berisha.

Aber auch in den erstgenannten drei Ländern sind noch so viele Fragen offen geblieben, daß von entscheidenden Schritten zu einer Stabilität auf dem Balkan noch nicht die Rede sein kann.

In den 84 lagen der Demonstrationen in Belgrad und in anderen Städten Serbiens ist ja nicht nur die Wiederherstellung der Wahlergebnisse vom vergangenen Herbst verlangt worden, man hat auch den Zugang der Opposition zu dem gesamtstaatlichen Fernsehen und Bundfunk und überhaupt die Schaffung demokratischer Zustände im Lande verlangt. Davon aber ist der serbische Präsident Slobodan Milosevic und sein Begime weiter entfernt denn je. Im Gegenteil: für ihn waren die Demonstrationen der Hunderttausenden kein demokratischer Ausdruck des Volkswillens, sondern ein von den Feinden Serbiens im In- und Ausland gesteuerter Versuch, das Land zu destabilisieren. Und die Anerkennung des Sieges der Opposition in Belgrad und vielen anderen Städten Serbiens auf der Basis der von ihm initiierten „lex specialis” war nicht das Ringestehen eines Gesetzesbruches, sondern die Beaktion auf die wirtschaftlichen Schäden, die Serbien durch die „feindliche Agitation” im Ausland entstanden sind.

Von Milosevic also irgendeinen, wenn auch nur kleinen Schritt in Richtung auf eine demokratische Ordnung im Lande zu erwarten, wäre verfehlt. Außerdem zeigt sich schon jetzt, daß die Oppositionsparteien, wenn sie in die Rathäuser einziehen, es außerordentlich schwer haben werden. Ihre Wirkungsmöglichkeiten dort sind beschränkt, außerdem hat Milosevic durch die Schaffung eines Ministeriums für Kommunalangelegenheiten in der neuen serbischen Regierung sich weitere Möglichkeiten des Eingreifens in die Verwaltung der Städte und Gemeinden geschaf fen.

Die Oppositionsparteien haben nun beschlossen, die Demonstrationen einzustellen. Sie wollen sie aber wieder aufnehmen, falls das Regime keine Schritte zur Öffnung der Medien unternimmt, und falls es nicht das Wahlgesetz ändert. Von einer Forderung nach vorgezogenen Parlamentsund Präsidentenwahlen ist im Augenblick noch nicht die Rede. Diese sollen im Dezember dieses Jahres stattfinden. Wahrscheinlich wollen sich die Oppositionsparteien von den Städten, in denen sie jetzt das Sagen haben, die Möglichkeit verschaffen,

durch lokale Fernseh-und Rundfunkstationen auch im Lande selbst zu Wort zu kommen.

Irr Bulgarien ist man in dieser Hinsicht schon etwas weiter. Dort sind die Menschen zwar erst auf die Straße gegangen, als sie gesehen haben, welches Echo und welche Wirkung die Demonstrationen in Belgrad zu Folge hatten, sie haben aber praktisch das Begime der Nachfolger der Kommunisten zum Einsturz gebracht. Die Be-gierung der „Sozialisten” wurde zum Rücktritt gezwungen, aus den Oppositionskräften wurde eine Ubergangsregierung gebildet und Mitte April finden Neuwahlen zum Parlament statt. Weder die Übergangsregierung noch die nach den Neuwahlen gebildete werden es leicht haben. „Bulgarien lebt in einem Elend, das sich die westliche Welt kaum vorstellen kann”, sagte unlängst Staatspräsident Stojanov.

Mit welch großen Schwierigkeiten die Opposition in Serbien und die Regierung in Bulgarien nun auch konfrontiert sein werden - in beiden Ländern ist in den letzten Wochen und Monaten etwas geschehen, was noch nie da war: das Volk ist auf die Straße gegangen, nicht aus nationalistischen Emotionen, sondern um demokratischen Forderungen zum Durchbruch zu verhelfen. Es hat damit in einer gewissen Hinsicht die bürgerlichen Revolutionen des Westens im vorigen Jahrhundert nachgeholt. Und das ist nicht mehr rückgängig zu machen, was immer die unmittelbaren Folgen dieser Bewegung auch sein mögen.

So weit ist es in Albanien offensichtlich noch nicht. Der Aufruhr, der

durch den finanziellen Zusammenbruch mehrerer offenbar betrügerischer Anlagefirmen ausgelöst wurde - ein Zusammenbruch, durch den Zehntausende ihre gesamten Ersparnisse verloren und an den Bettelstab gebracht wurden - hat einen ebenso blutigen wie chaotischen Charakter

angenommen. Und zwar von Seiten der Demonstranten wie der Polizei.

Die Demonstranten beschuldigten zwar das Begime des Präsidenten Sali Berisha, gegen die betrügerischen Firmen nicht eingeschritten zu sein, möglicherweise von diesen durch eine Finanzierung des Wahlkampfes auch noch profitiert zu haben - konkrete

demokratiepolitische Forderungen waren aber kaum zu hören. Allerdings haben sich die Oppositionsparteien nach Vorbild von „Za-jedno” (Gemeinsam) in Belgrad jetzt zu einem politischen Verband zusammengeschlossen.

Ob die Vertagung des endgültigen Schiedsspruches über Brcko um ein Jahr ein salomonisches Urteil war, muß sich erst noch erweisen. Die in dem für die bosnischen Serben lebenswichtigen Korridor zwischen dem östlichen und dem nordwestlichen Teil der Republika Srpska gelegene Stadt bleibt also zunächst unter serbischer Verwaltung, allerdings unter internationaler Oberaufsicht. Möglicherweise istdadurch ein neuer Krieg in Bosnien-Herzegowina vermieden und das Dayton-Abkommen gerettet worden. Jedenfalls haben die muslimisch/bosnisch-kroatische Föderation wie die bosnischen Serben den Schiedsspruch grundsätzlich akzeptiert. Aber der Sprecher der Republika Srpska, Momcilo Krajisnik, hat gegen die vom Schiedsspruch vorgesehene Rückkehr der muslimischen und kroatischen Flüchtlinge und Vertriebenen in die Stadt bereits heftigst protestiert.

Vor dem Krieg hatte Brcko über 80.000 Einwohner, davon 44 Prozent Muslime, 25 Prozent Kroaten und 21 Prozent Serben. Heute ist die Stadt an der Save, die als „Tor zu Europa” bezeichnet wird, fast ausschließlich von Serben bewohnt, wieviel es sind, weiß kein Mensch. Auf alle Fälle befinden sich dort aber Zehntausende von Flüchtlingen aus der kroatischen Krajina und aus Sarajevo.

Für beide Seiten ist Brcko mit großen Emotionen belastet. Muslime wie Kroaten beklagen an die 3.000 Tote, umgebracht von serbischen Freischärlern im Schutze der jugosla wischen Armee. Und die Serben behaupten, in den Kämpfen um den Korridor ebenso viele Angehörige verloren zu haben. Die internationale Konferenz, die am 4. März in Wien unter dem Vorsitz des Bosnien-Kommissars Carl Bildt zusammentritt, um über die Durchführung des Schiedsspruches zu beraten, ist um ihre Aufgabe nicht zu beneiden.

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