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Nennis große Stunde

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Wenn das Unternehmen einer Regierung der linken Mitte gelingt — und man weiß nicht, was zu tun wäre, wenn es nicht gelingen sollte —, wird der Sekretär der Sozialistischen Partei Italiens, Pietro Nenni, nach 16jähriger Opposition wieder einen Ministerstuhl einnehmen. Den gesteckten Zielen der „Linksöffnung“ nach soll er als Vizeministerpräsident ohne Porte feuille in ein Kabinett Moro ein- treten in gleicher Eigenschaft wie die Sekretäre der verbündeten Parteien, Giuseppe Saragat für die Sozialdemokraten und Oronzo Reale für die Republikaner. Dies natürlich, ohne die Möglichkeit zu berücksichtigen, daß in dem Slalomlauf der Überraschungen des in Rom versammelten XXXV. Kongresses der Sozialistischen Partei Italiens

(PSI) und der eventuell nachfolgenden Koalitionsverhandlungen auch die Tore verfehlt werden können.

Rückkehr in den Palazzo Chigi

Sich Pietro Nenni auf der Regierungsbank vorzustellen, ist weniger leicht als ihn auf dem Abgeordnetensitz zu sehen, wie er gegen die Reaktion donnert. Der heute 72jährige Politiker blickt auf eine Karriere zurück, die eigentlich 55 Jahre dauert, denn schon als Siebzehnjähriger, kaum aus dem Waisenhaus entlassen, wo er aufgezogen worden war, wurde er wegen Teilnahme an einer antiklerikalen Kundgebung ins Gefängnis gesteckt. Jedenfalls hat er mehr Jahre in nazistischen und faschistischen Kerkern verbracht als Regierungsverantwortung geteilt. Diese dauerte eine winzige Zeitspanne, von 1945 bis 1947, als er, die Außenpolitik Italiens leitend, im Palazzo Chigi residierte, bis zu seiner Ausbootung durch Alcide De Gasperi. Wenn er in den gleichen ehrwürdigen Palast zurückkehrt, der heute als Ministerpräsidium dient, so bedeutet das die merkwürdigste Wende in seinem Leben als Politiker, vielleicht auch die letzte große Entscheidung in seiner Laufbahn. Wie groß, wird den Journalisten bewußt, die vor einem Jahrzehnt während einer Wahlkampagne ihn bei einer Pressekonferenz mit Fragen bedrängten, bis ihm ein alter Berliner Sozialist, Viktor Schiff, das Eingeständnis abrang: „Zwischen uns

Sozialisten und den Kommunisten gibt es praktisch keine Unterschiede mehr; wenn wir als eigene Partei in den Wahlkampf gehen, dann aus rein taktischen Gründen.“ Die Erklärung war wie ein Schatten auf die Versammelten gefallen; aber nachher, als er mit ihnen plaudernd eine Tasse Espresso schlürfte und eine ungarische Emigrantin angst- voll-naiv fragte, was wohl im Falle der kommunistisch-sozialistischen Machtübernahme aus ihr und ihresgleichen würde, faßte er sie begütigend unterm Kinn und sagte tröstend: „Signora, in Italien arrangiert man sich.“

Der „Verlobte aller“

Das italienische Bürgertum ist gewohnt, von Nenni unheilvolle Dinge zu hören, aber da sie aus seinem Munde kommen, scheinen sie ihm wenig unheilvoll zu sein. Es gibt kaum jemanden, der sich den Strömen von Sympathie, Bonhomie und Menschlichkeit entziehen kann, die von dem Romagnolen aus Faenza ausgehen. Keiner seiner politischen Gegner will sich mit ihm persönlich verfeindet betrachten. Nicht Saragat, der ihm mit der Abspaltung der Sozialdemokratie 1947 den schwersten Schlag versetzt hat, von dem sich der Nenni-Sozialismus nie mehr erholt hat; nicht De Gasperi, der ein Verlöbnis mit Nenni zu suchen begann, als sich das Wahlglück der Democrazia Chri- stiana zu wenden begann. Aber Nenni, der „Verlobte aller“, wie man ihn spöttisch nannte, war damals noch Palmirio Togliatti versprochen, mochten sich auch die Anzeichen mehren, daß der PSI sich von der KPI um Nuancen abzuheben wünschte. Wenn es dem christlichdemokratischen Parteisekretär Aldo Moro heute gelingt, den ewig Oppositionellen als inzwischen freilich angejahrte Braut heimzijiführen, so gibt es doch kaum jemanden, der Nenni des Transformismus beschuldigt, seine Bona fides in Zweifel zieht und den glücklichen Kirchgang, Endpunkt eines seit lange angestrebten „Dialogs mit den Katholiken“, nicht als Ergebnis einer mühsamen, an schmerzlichen Enttäuschungen reichen Entwicklung betrachtet, der Lossagung vom Kommunismus, was für Nènni soviel wie die Lossagung von einem Mythus bedeutet, an den er sein Leben lang geglaubt hat, vom Mythus von der Einheit der Arbeiterklasse.

Er war in ihm als Hoffnung aufgesprungen, als er, Emigrant in Frankreich, 1933 die Verständigung der , ,§pziftlisten Rlums .rTOitp.’lden; Kommunisten von Cachin erlebten Aber 1939, bereits in einem Konzentrationslager bei Lyon, legte er seine Stelle als Sekretär der italienischen Exilsozialisten und als Chefredakteur des „Nuovo Avanti!“ (der damals heimlich in Paris gedruckt wurde) zurück: „Mein Rücktritt ist eine Erfordernis der politischen Rechtlichkeit. Die Desertion der Sowjetunion aus der Widerstandsfront gegen den Hitlerismus hat die Grundlagen der politischen Aktionseinheit getroffen, zu deren leidenschaftlichsten Anhängern ich gehört habe.“ Als zwei Jahre später der Krieg zwischen der Sowjetunion und Deutschland ausbrach, anerkannte er zwar „die intime Beziehung zwischen dem Sowjetstaat und dem Proletariat Europas“, bekannte jedoch, daß er selbst im Gegensatz zu anderen Genossen an jenem fatalen 22. Juni gelitten habe: „Ich war des Zusammenstoßes zwischen Rußland und dem Dritten Reich sicher, aber ich hatte gehofft, daß es Moskau sein würde, das die Stunde bestimmte, nicht Berlin.“

1948: Jahr der Wende

Die gemeinsame Résistance hat Nenni wieder mit den Kommunisten zusammengebracht, aber die Enttäuschung ist auch hier nicht ausgeblieben. Die Idee einer italienischen Einheitspartei der Arbeiter erwies sich als undurchführbar, die hegemonistische Arroganz der KPI als unerträglich. Saragat lehnte die Aktionseinheit ab und verließ mit den Seinen die Partei. 1948 erlitten die Kommunisten eine vernichtende Wahlniederlage und mit ihnen die Sozialisten. Der Traum von einem raschen Umschwung war vorbei, der von einer langsamen Eroberung des Staates auf demokratischem Weg verfloß in immer fahleren Farben, im gleichen Maße wurden die Beziehungen zu den Kommunisten blasser. Auf die Nuancierung folgte die Aufkündigung des Paktes der Aktionseinheit, ersetzt durch regelmäßige Konsultierungen, an die keiner der beiden Teile glaubte. Ein abenteuerlicher Versuch, die sozialistische Einheit wiederherzustellen, durch eine Begegnung zwischen Nenni und Saragat im savoyischen Pralognan zeigte, daß bin solcher Prozeß nicht mehr von der Spitze, sondern nur noch von der Basis her möglich war. Auf den Kongressen von Neapel (1959) und Mailand (1961) suchte Nenni die politische Distanzierung von den Kommunisten durchzusetzen.

Die Problematik der „Linksöffnung“ liegt nicht in der Person Pietro Nennis, sondern in der Nenni-Partei. Wie weit ist sie überhaupt noch die Partei ihres Sekretärs? Mit anderen Worten: Betrachtet sie ihn noch als ihren wirklichen Leader? Der Zweifel ist so berechtigt, daß er schon kein Zweifel mehr ist. Eine neue politische Generation ist herangewachsen, die keine mit Narben und Medaillen vieler politischer Schlachten bedeckte Brust vorzuzeigen hat, dafür aber das besitzt, was die Amerikaner „efficiency“ nennen, Durchschlagskraft und das Wissen darum, wie man sich des Parteiapparates bedient. Nenni, der Sympathien sogar in der gegnerischen Presse erntet, hat sich um den Apparat wenig gekümmert. Daher wird er bei den Kongressen stürmisch bejubelt, applaudiert, aber dann stimmt man gegen ihn. So war es gekommen, daß er beim letzten Kongreß in Mailand 1961 nur mehr 53 v. H. der

Stimmen erhielt.

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