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Neue Zauberer an den Börsen

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An den Börsen geht es chaotisch zu. Oder doch nicht? Findige Finanzanalysten haben aus dem Chaos eine gewisse Ordnung herausgefiltert.

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An den Börsen geht es chaotisch zu. Oder doch nicht? Findige Finanzanalysten haben aus dem Chaos eine gewisse Ordnung herausgefiltert.

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Dollarverfall, Zusammenbrach eines alteingesessenen britischen Bankhauses infolge geplatzter Spekulationen, Unordnung im Europäischen Währangssystem ... Der Auffassung, daß an den internationalen Finanzmärkten das Chaos herrsche, werden nach diesen Ereignissen der letzten Monate viele zustimmen können. Allerdings sind diese Märkte auch bekannt dafür, „das Gras wachsen zu hören”, eingebildete oder tatsächliche Entwicklungen vorwegzunehmen oder herbeizumanipulie-ren und darauf Positionen zu bauen, um auf diese Art auch noch das letzte Zweiunddreißigstelprozent einer Gewinnchance herauszuholen. Wenig überraschend also, daß sich die Finanzszene selbst - vielleicht sogar in gewisser Selbsterkenntnis - dieser An-■ sieht chaotischer Bedingungen in ihrem Geschäft bemächtigt hat, um eventuell auch daraus mögliche Handlungsanleitungen zum schnellen Gewinn zu formulieren.

Dazu sind die Erkenntnisse einer in den letzten Jahren rasch in Mode gekommenen „Chaostheorie” hilfreich, die „Chaos” allerdings in einem präziseren und relativ konstruktiven Sinn versteht. Nämlich nicht bloß als totale Abwesenheit von Ordnung, sondern als eine tieferliegende und verborgene Art von Ordnung, die allerdings strukturell so reich, vielfältig und komplex ist, daß sie für uns (noch) nicht durchschaubar ist und sich durch keines der uns bekannten - und sei es noch so komplizierten - mathematischen Muster und Modelle einfangen läßt.

Chaos wäre in dieser Sicht eine Ordnung von unendlicher Komplexität. Seine Beschreibung gelingt schon deshalb nicht, weil dazu eine unendliche Menge von fnformationen und Einzelheiten notwendig wäre. Je mehr Informationen aber verfügbar sind, desto mehr Struktur kann darin möglicherweise aufgespürt werden.

Kurz gesagt bedeutet das: durch das Sammeln von mehr Daten und Informationen und durch ihre Auswertung könnte es möglich sein, komplexere Strukturen und Begelmäßigkeit dahinter zu entdecken als die bisher bekannten. Bewegungen, die aufs erste chaotisch erscheinen, folgen doch bestimmten Ordnungskriterien.

Daran haben die findigen Finanzanalysten nun rasch gewisse Hoffnungen geknüpft. Manche von ihnen haben Zugriff auf Zeitreihen über Devisen- und Wertpapierkurse, die diese

Daten täglich oder gar stündlich festhalten, und das über zehn und mehr Jahre hinweg: Zweifellos beachtliche Datenmengen, die das Interesse von Chaostheoretikern erweckt haben und aus denen sich mit einiger Akribie eventuell manch neuer Zusammenhang herausfiltern lassen könnte.

Was auch bereits geschehen ist: Das beginnt mit scheinbar trivialen Beobachtungen der Art, daß zu manchen Tageszeiten im internationalen Börsenhandel die Kursschwankungen von Devisen oder Wertpapieren größer sind als zu anderen Tageszeiten. Kaum Bewegung herrscht, wenn die Händler in Tokio ihre Mittagspause genießen, während in Europa und Amerika noch die Nachtruhe gepflegt wird. Am turbulentesten geht es zu, wenn Europäer und Amerikaner zugleich im Markt sind, was nach europäischer Zeit am Nachmittag der Fall ist.

Ist diese tageszeitliche Ordnung im scheinbaren Chaos erst erkannt, lassen sich daraus wesentliche Schlüsse ziehen. Eine Kursbewegung bestimmten Ausmaßes hat in einem normalerweise als ruhig bekannten Tagesabschnitt eine wesentlich andere Qualität als eine gleichartige Bewegung zu einer als ohnehin hektisch verschrieenen Stunde. Ein plötzlicher Ausschlag zur Buhezeit kann dann

die Dimensionen des bereits sprichwörtlichen Flügelschlags eines Schmetterlings erreichen, der sich zum Orkan auswächst. Man muß Kursausschläge daher mit einem Index der jeweiligen Tageszeit gewichten - Informationen, die verlorengehen, wenn man nur mit Tages- oder gar Monatsdurchschnitten arbeitet. Tatsächlich haben jene Devisen- und Wertpapierhändler, die diese Informationen zu nutzen verstanden, bessere Ergebnisse erzielt als die anderen.

Es wäre jedoch nicht die Ökonomie, wenn sich daraus nicht auch ein kleiner Dogmenstreit entwickeln ließe: Traditionell werden Devisenkurse aus den fundamentalen Wirtschaftsdaten eines Landes wie Wachstum, Zinsen, Staatsverschuldung, Inflation und dergleichen zu bestimmen versucht. Nun bestreitet kaum jemand, daß dies auf längere Sicht die entscheidenden Determinanten für den Wert einer Währung sind. Die oftmals hysterischen und wilden Kursbewegungen von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde, also die kurzfristigen Entwicklungen, sind damit aber kaum in den Griff zu bekommen.

Die lange Zeit vorherrschende Meinung war daher, daß die kurzen Bewegungen einem reinen Zufallsprozeß gehorchen. Zumindest die Theoretiker sahen das so; die Praktiker hatten immer schon versucht, diesen „Zufall” zu ihrem Nutzen zu gestalten. Wie dem auch sei - sollte sich zeigen, daß in diesem Bereich bisher

verborgene Gesetzmäßigkeiten nachgewiesen werden können, also nicht der bloße Zufall herrscht, wäre dies das Ende der obigen Theorie der kurzfristigen Kursbewegungen.

Tatsächlich konnte bewiesen werden, daß Kursveränderungen Schockwellen auslösen, die eine bestimmte Zeit hindurch fortwirken: Das heißt, daß die Märkte doch ein „Gedächtnis” haben und der Wert des nächsten Tages oder der nächsten Stunde weniger vom Zufall als vielmehr auch von bestimmten Erfahrungen abhängt.

In der Zwischenzeit wurden komplizierte Systeme und Modelle entwickelt, die unter den Namen „Frak-tale” und „Neuronale Netze” bekannt wurden und durchaus auch für Zwecke der Finanzmärkte Anwendung gefunden haben. Dennoch steh^ diese Forschung noch am Anfang. Die bisherigen Untersuchungen haben jedoch bereits viele wertvolle Ergebnisse gebracht, wie etwa über die Strukturen der Finanzmärkte selbst über Rolle und Verhalten der Marktteilnehmer, über Zusammenhänge zwischen einzelnen Teilmärkten und über die Auswirkungen neuer Nachrichten und Informationen.

So könnte aus diesen Forschungen doch auch wesentlich mehr entspringen als simple Programme zur Ge-winnmaximierung.

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