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Neugruppierung in Europa

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Der Beschluß der Außenminister der zehn Staaten, die beratende europäische Versammlung für 8. August nach Straßburg einzuberufen, führt zu der Frage, nach welchen Grundsätzen sich dieses Organ konstituieren soll. Am natürlichsten erscheint die Lösung, die Abgeordneten, die entsprechend der Bevölkerungsstärke ihrer Länder vertreten sein werden, einfach als die jeweiligen nationalen Repräsentanten auftreten zu lassen. Das hieße aber letzten Endes, daß wieder nur unter ausschließlich nationalen Gesichtspunkten verhandelt und die Bemühungen zur Schaffung einer kontinentalen Union eher belastet als gefördert würden.

Wir haben bereits im Genfer Völkerbund und in den Vereinten Nationen das typische Beispiel übernationaler Gebilde, die im wesentlichen nur zur Vorführung der einzelstaatlichen Interessen dienen und deren Ergebnisse, gemessen an der Hoffnung, die an ihre Gründung geknüpft wurde, und dem Aufwand, den sie verlangen, als gering bezeichnet werden müssen. Sogar die Zusammenarbeit im Rahmen des Marshall-Planes stößt auf immer größere Schwierigkeiten, da die egoistischen Erwägungen die Notwendigkeit einer gesamteuropäischen Wirtschaft vielfach verneinen. So wurden die letzten Besprechungen des Exekutivausschusses der Teilnehmer am Marshall-Plan, welche den Währungsfragen gewidmet war, ergebnislos abgebrochen.

Um derartigen Gefahren auszuweichen, sieht die europäische Versammlung eine Abstimmung nicht nach Ländern, sondern individuell vor. Mit anderen Worten: es wird mit einer Neugruppierung der politischen Kräfte Europas gerechnet, ja, dieselbe wird sogar gewünscht, derart, daß die verschiedenen politischen Querverbindungen des Kontinents gefördert und erweitert werden. Man erwartet, daß damit ein ganz bedeutender Schritt nach vorwärts gemacht worden ist, welcher die europäische Politik, besonders jedoch die der Parteien, vor ganz neue Ausblicke stellt.

Bekanntlich werden die Abgeordneten für Straßburg aus den einzelnen nationalen Parlamenten gewählt, wobei die Stärke der dort vertretenen Parteien Berücksichtigung findet. Der von den Theoretikern des europäischen Uniongedankens oft vorgebrachte Gedanke, auch Delegierte von außerhalb der Parlamente zuzulassen, zum Beispiel aus den Gewerkschaften, fand bisher nicht die Billigung der maßgebenden Kabinette. Der Wunsch nach einer umfassenderen Vertretung aller Kräfte der Völker gewinnt allerdings mehr und mehr an Boden und führte erst vor kurzem während des Nationalkongresses des französischen MRP zu langen und erregten Auseinandersetzungen. Der linke Flügel des MRP forderte die Entsendung von Nichtparlamentariern in die Straßburger Versammlung. Man erinnerte sich des kühnen Vorschlages Paul Reynauds auf dem Europakongreß 1948 in den Haag, der die Entsendung der Abgeordneten durch direkte allgemeine Volkswahlen verlangte.

Es ist anzunehmen, daß die Abgeordneten in Straßburg — wenn auch nicht gleich, so doch im weiteren Verlauf — die großen politischen Richtungen und geistigen Bewegungen des gegenwärtigen Europa zum Ausdruck bringen werden. Schon jetzt haben die englischen Konservativen, nach Bekanntgabe der Namensliste der britischen Delegation für Straßburg mit den historischen Parteien Skandinaviens die Fühlungnahme hergestellt. Diese Besprechungen wurden sehr zu Unrecht von der Presse, deren Interesse ganz von den Vorgängen bei der Pariser Konferenz der großen Vier in Anspruch genommen war, nur am Rande vermerkt. Noch liegen keine bestimmten Ergebnisse jener britisch-skandinavischen Besprechungen vor; aber man kann es als wahrscheinlich bezeichnen, daß die von Churchill geschaffene Bewegung: „United Europe — Movement“ zu einer Sammlung der konservativen Kräfte Europas ausgewertet wird.

Auch die Liberale Weltunion hatte sich von Anfang an für die Schaffung eines einheitlichen Europa eingesetzt und konnte durch zähes Bemühen und ihre Verhandlungstaktik wichtige Schlüsselstellungen für die internationale Zusammenarbeit in die Hand bekommen. Wenn auch der Liberalismus als Partei den einst überragenden Einfluß auf die politischen Geschicke Europas eingebüßt hat, so spielen seine Parteigruppen doch noch eine erhebliche Rolle. Sie besitzen ausgezeichnete Zeitungen, die zu den einflußreichsten der Weltpresse gehören — so in der Schweiz, Schweden, Belgien und England —, und durch eine enge Verbindung mit Kreisen der Wirtschaft und Finanz verfügt die liberale Union auch über materielle Hilfsmittel, die ihr einen oft nicht sichtbaren Einfluß auf die Gestaltung der internationalen Dinge gewährten. Der Zug zur Bildung neuer festländischer Konzerne wird in Zukunft den liberalen Kreisen einen weiteren machtmäßigen Zuwachs bringen.

Eine viel engere Zusammenarbeit erzielen in allen internationalen Fragen die sozialistischen Parteien. Die Sozialistische Internationale verfügt über Tradition, Erfahrung, einen ausgebauten Apparat und eine Reihe von gut eingespielten Sekretariaten, sie fördert mit allen Mitteln die intime Verbindung der Parteien, die von regelmäßigen Zusammenkünften der leitenden Funktionäre bis zu einer aktiven Unterstützung in wichtigen politischen Fragen reicht. Als zum Beispiel das Zentralorgan der französischen sozialistischen Partei, „Le Populaire“, in große finanzielle Schwierigkeiten geriet, meldete sich Schweizer und englische sozialistische Hilfe, um den Fortbestand zu sichern. Die ursprünglich starre und unnachgiebige Haltung Schumachers gegenüber dem Bonner Grundgesetz weist darauf hin, daß die deutsche sozialdemokratische Partei, von den späteren Vermittlungsvorschlägen der Militärregierungen, die ihr zu Hilfe kamen, in Kenntnis gesetzt worden war. Der darauf sehr offen ausgesprochenen Vermutung, daß die englische Arbeiterpartei die deutsche Bruderpartei vorher unterrichtet habe, ist meines Wissens nie widersprochen worden. Damit aber sicherte sich die deutsche Sozialdemokratie als augenscheinliche Vorkämpferin für die Lebensinteressen des Volkes einen günstigen Vortritt zu den kommenden Wahlen. Beispiele ähnlicher Art der internationalen Zusammenarbeit der sozialistischen Parteien ließen sich beliebig anführen, um die Wirksamkeit dieser Fühlung innerhalb der sozialistischen Lager zu dokumentieren.

Die bestorganisierte Zentrale der politischen Parteien ist die in der Kominform verbundene Union der kommunistischen Parteien. Die einzelnen Mitglieder verfügen jedoch über eine sehr geringe eigene Handlungsfähigkeit und sind gezwungen, sich dem Willen der Führung unbedingt unterzuordnen. Die kommunistischen Parteien stehen der Bildung einer europäischen Union scharf ablehnend gegenüber. Ihre in der Nachkriegszeit vertretene These von der absoluten nationalen Souveränität, die als Argument gegen den Marshall-Plan immer wieder in den Kampf geworfen wurde, läßt sich mit der Übergabe eben eines Teiles dieser Souveränität an einen, wenn auch nur beratenden Organismus nicht vereinen. Es fürchtet ja auch die kommunistische Internationale durch das Entstehen eines europäisch-afrikanischen Großwirtschaftsraumes und eine Gesundung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse ein Sinken ihres Einflusses auf die westlichen Arbeitermassen. Die kommunistische Internationale wird daher in Straßburg nicht vertreten sein. Mit einer erbitterten Gegnerschaft von dieser Seite ist gegen alle Pläne zur Ausgestaltung einer europäischen Föderation zu rechnen.

Als letzte der großen internationalen politischen Organisationen bildete sich 1948 die NEI („Nouvelles Equipe internationales“), die Zusammenfassung der christlich - demo kratischen Parteien Europas. Zwischen den Kriegen bestand wohl ein kleines Informationsbureau einzelner christlichsozialer Parteien; von einer tatsächlichen Organisationn oder effektiven politischen Zusammenarbeit konnte noch nicht gesprochen werden.

Die Entwicklung der christlich-demokratischen Parteien nadi dem Kriege und ihre Verpflichtung zu großen verantwortungsvollen Aufgaben schuf jedoch ein starkes Verlangen nach gegenseitiger Beratung und brüderlicher Verständigung und führte zu einer organischen Verbindung, die ihre Kraft und Wärme aus weltanschaulicher Gemeinsamkeit empfängt.

So arbeitet heute die NEI in der europäischen Bewegung als eine der fünf Hauptgruppen, sie widmete ihrem Kongreß in den Haag diesen Problemen und gestaltet das Mitte Juli in Hofgastein stattfindende T reffender jungen Generation zu einem Bekenntnis für die Weite des christlichen Abendlandes, das heißt für die Freiheit des einzelnen im Rahmen der Gemeinschaft und besonders für die Festigung des sozialen Friedens.

Obwohl die jüngste der politischen Internationalen, entwickelt sie sich immer mehr zu der von der stärksten Dynamik bewegten. Der westliche Sozialismus beginnt an seiner eigenen Doktrin zu zweifeln. Der Liberalismus konnte zu keiner neuen konstruktiven Formulierung seines aus dem 19. Jahrhundert überlieferten Gedankengutes gelangen, und gegenüber den Mächten der Zerstörung sammeln sich die Kräfte Europas zu einer nicht an Staatsgrenzen gebundenen Entwicklung, die eine Neuorientierung der europäischen Volksgemeinschaft versucht.

Dieser Bewegung kommt zustatten, daß sie wie keine andere die junge Generation anspricht, hingerichtet auf ein öffentliches Leben, das jenseits der Grenzen Nationen zu einer Neuschöpfung des abendländischen Denkens führt. Schon kann man es heute ahnen, daß in den nächsten Jahren eine Umwälzung des politischen Denkens die bisherigen Vorstellungen vom Zusammenleben der europäischen Staaten ersdiüttern wird. Die in den Staatswesen tätigen christlichen Kräfte erwartet hier eine große Mission.

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