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„Nie wieder in einen solchen Bärenzwinger!“

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Unerwartet für die französische und internationale Öffentlichkeit trat die Regierung Pinay vor den Weihnachtstagen zurück und eröffnete dadurch eine Krise, die in starker Weise die französische und europäische Politik beeinflussen wird. Obwohl der Sturz der Regierung von den Auguren des Palais Bourbon seit Wochen vorausgesagt Wurde, wollte doch niemand recht an eine derartige Möglichkeit glauben — natürlich mit Ausnahme der präsumtiven Nachfolger.

Der Rücktritt der Regierung ist nicht nur das Werk einer Partei oder der Ausfluß einer zufälligen Konstellation, sondern hat tiefere Ursachen.

Es gibt wohl kein europäisches Parlament, das ein derartiges mörderisches Tempo kennt wie die französische Kammer. Das System der Nachtsitzungen hat sich als eine Art Folter für die amtierenden Minister entwickelt. Während die Abgeordneten zumindest in der Frühe der Ruhe pflegen können, ist der Minister verurteilt, sofort in sein Amt zu eilen, Empfängen beizuwohnen und dem Ministerrat zu folgen. Der Ausspruch Pinays: „Nie wieder in einen solchen Bärenzwinger“ ist daher durchaus verständlich. Eine Reform der Arbeitsweise im Parlament wie eine grundlegende Veränderung der Verfassung wird seit Jahren von allen Regierungen ins Auge gefaßt, bisher aber besaß keine Regierung die Autorität zu einer Änderung.

Auch eine Reihe politischer Momente sind zur Erklärung der Krise heranzuziehen, Die Sonderinteressen gewisser Wirtschaftskreise und -gruppen, wie die der Landwirtschaft, des Zwischenhandels, der ehemaligen Soldaten und der Gewerkschaften, bedrohen immer wieder jede Synthese einer Wirtschafts- und Sozialpolitik. Denn alle diese Organisationen stellen ihre oft berechtigten Forderungen zu sehr in den Vordergrund und denken nicht daran, in erster Linie das Wohl der Gesamtnation zu beachten.

Die Abgeordneten fühlen sich immer weniger ihren Wählern verantwortlich, sondern vertreten eben diese Teilinteressen, denen sie sich aus Affinität oder persönlicher Stellung ergeben. Nun war es ein offenes Geheimnis, daß gewisse Wirtschaftsverbände mit immer größeren Reserven den Fortgang der Regierungspolitik folgten, und bereits im Oktober und November konnte man auch in ernsthaften Zeitschriften lesen, daß sich diese oder jene Gruppe entschlossen hatte, das ihrige beizutragen, um die Regierung zu ersetzen.

Schließlich geriet auch die Person des Außenministers Schuman immer mehr in heftige Polemiken. Die alte Garde der Radikalen, wie Herriot und Daladier, die in der Tradition der europäischen Hegemonie Frankreichs erzogen worden waren und ihr Mißtrauen gegen den deutschen Parther nicht aufzugeben gedachten, zogen die Europapolitik Schumans immer mehr in Zweifel. Auch die Ereignisse in Tunis trugen nicht dazu bei, die Stellung der Regierung im allgemeinen und die Schumans im besonderen zu stärken. Ein Abgang des Außenministers wurde von weiten Kreisen der radikalen Unabhängigen schon lange gefordert, und nur die Solidarität Pinays mit Schuman verhinderte eine Zeitlang die offene Krise am Quai d'Orsay.

Nicht uninteressant waren die unmittelbaren Ursachen des Rücktritts der Regierung. Diese hatte mehrere Vertrauensfragen in den Budgetverhandlungen gestellt und wollte zum erstenmal in der Geschichte der Vierten Republik ohne Budgetprovisorium auskommen. Eine dieser Vertrauensfragen betraf die Farn i-iienrenten, denn das MRP hatte eine substanzielle Erhöhung dieser Zuwendungen verlangt. Die Familienrente, das heißt, also die staatlichen Unterstützungen an kinderreiche Familien, wird als die eindrucksvollste Verwirklichung des Programms der Volksrepublikaner (MRP) angesehen. Das MRP ist seiner gesamten Struktur nach die linkeste aller christlich-demokratischen Parteien Europas. Als Anhänger einer gelenkten Wirtschaft konnten die Volksrepublikaner den orthodox-liberalen Methoden Pinays nie zustimmen. Dazu kam noch, daß die Bestrebungen eines sozialen Konservativismus die Partei immer stärker von der übrigen Mehrheit trennte. Dadurch wurde das MRP immer mehr isoliert, denn die Sozialisten, mit denen Übereinstimmung in den hauptsächlichsten Fragen der Wirtschaft und Sozialpolitik bestand, nahmen an der Regierung nicht teil und verharrten in einer bequemen Opposition. Allerdings gibt es auch große Gegensätze zwischen MRP und Sozialisten, besonders in der Sdrulfrage (Subventionen an die freien Schulen), in der die Regierungsmehrheit im allgemeinen eine positive Stellung bezogen halte. Der linke Flügel des MRP, gebildet aus den Vertretern der christlichen Gewerkschaft und früheren Funktionären der mächtigen katholischen Jugendbewegungen, hatten im neuen Parteipräsidenten T e i t g e n eine Persönlichkeit gefunden, die ohne Zweifel gewillt war, zu dem ursprünglichen Programm der ersten christlich-demokratischen Bewegung zurückzufinden.

Auf der anderen Seite bildete sich ein Flügel um den routinierten Politiker B i-d a u 11, der in Erinnerung an die Resistance die einstmals sichtbar gewordenen moralischen und geistigen Kräfte in einer nationalen Regruppierung zu sammeln gedachte. Nicht umsonst wurde Bi-dault wieder Präsident der nichtkommunistischen Traditionsverbände des Widerstandes. Diese Entwicklung beinhaltete selbstverständlich irgendwie eine Annäherung zum RPF. Die Sammelbewegung de Gaulies, durch eine Reihe von Krisen geschwächt, konnte nicht mehr daran denken, jemals ihr ursprüngliches Programm zu verwirklichen und das parlamentarische ParteiTegime durch eine autoritäre Regierung zu ersetzen. Diese Bewegung hatte die klassischen Rechte verloren und begann sich wiedeT sehr sozial zu zeigen. Soziologisch gesehen, gleicht sie in der Struktur dem MRP. Hier wie dort treffen sich das kleine Bürgertum und gewisse Schichten der Arbeiter und Angestellten. Wohl machen sich im RPF noch immer revolutionäre Strömungen bemerkbar, doch sind sie nur mehr doktrinärer Niederschlag und gleichen in nichts mehr jenem echten Revolutionsgeist einer dynamischen Massenbewegung, Wie sie sich 1947 und 1948 vorstellte.

Die Regierungskrise trifft Frankreich in einem. kritischen Moment. Die Vorfälle in: Nordafrika verlangen eine eindeutige und klare Politik im Rahmen der Französischen Union. Die Offensive der kommunistischen Truppen in Indochina läßt diesen Kriegsschauplatz nach wie vor als das schwerste Problem des Staates erscheinen. Die Saargespräche sollen wieder in Gang gebracht werden, um dieses größte Hindernis auf dem Wege zur europäischen Integration aus der Welt zu schaffen. Nicht zuletzt beginnen weltpolitische Diskussionen, die unter Umständen das Schicksal der ganzen Erde bestimmen können. Und wieder ist durch den Ausfall der französischen Regierung Kontinentaleuropa in diesen begonnenen Gesprächen nicht vertreten.

Was sind nun die Perspektiven für die Bildung einer französischen Regierung, die mit Autorität die Finanz- und Wirtschaftsprobleme des Landes meistern kann und Frankreich international vertreten wird? Es bedarf nicht eines immerwährenden Wechsels der Personen, sondern der Ausarbeitung eines Wirtschaftsund Sozialprogramms auf weite Sicht, das von allen Parteien der Mehrheit loyal unterschrieben werden kann. Die Mission Soustelles hatte den Vorteil, das RPF aus der bisherigen Quarantäne zu befreien und eine erste Annäherung mit den Gruppen der Mehrheit herzustellen. Die ursprüngliche Betrauung des Generalsekretärs der Sozialisten M o 11 e t und dessen Ablehnung des Auftrages bewies, daß diese Partei nicht gesonnen ist, ihre oppositionelle Stellung preiszugeben. Also wird wohl die alte Mehrheit wieder zusammengeflickt werden. Aber das Ende der Regierung Pinay hat nachdrücklichst unterstrichen, daß die bisherigen Methoden keinen Erfolg 'mehr versprechen. Nur eine sehr radikale Veränderung der ursprünglichen Struktur der Mehrheit wird Frankreich eine arbeitsfähige Regierung schenken. Diese kann sich nach Meinung der meisten politischen Beobachter nur in einer sogenannten nationalen Union ausdrücken, wobei das MRP die Rolle des Geburtshelfers übernehmen müßte. Allerdings kann als weitere Alternative angenommen werden, daß das mittlere Frankreich vollkommen neue Persönlichkeiten zum Vorschein bringt, welche unter anderen Vorzeichen das Experiment des Jahres 1952 wiederholen. Oder werden es vielleicht gar wieder dieselben sein...?

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