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„Noch ist es Zeit..

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Das Ende der französischen Parlamentsferien sowie eine Reihe von Kongressen der Regierungsparteien mit teilweise heftiger Kritik ah der Außenpolitik der Regierung machen es notwendig, die Stabilität der Regierung Pinay zu überprüfen. Ohne Zweifel darf Pinay für sich in Anspruch neljmen, der bisher erfolgreichste französische Ministerpräsident der Nachkriegszeit zu sein. Als er sein Amt antrat, konnte man in Frankreich von einer ausgedehnten Vertrauenskrise, der öffentlichen Meinung gegenüber den Vollzugsorganen der Nation sprechen. Die wirtschaftliche Lage war trostlos. Eine mehr oder weniger verschleierte Inflation breitete sich ifnmer stärker aus.. Frankreich Wüßte nicht, wie es seinen Verpflichtungen im Rahmen der Zahlungs- uniön nachkommen konnte. Der Regierung Faure war es nicht gelungen, eine Sanierung eihzuleiten und dem Volk eine konstruktive WirtBchafts- und Finanzpolitik zu unterbreiten.

In diesem kritischen Moment Würde der fast unbekannte Trahsportminister: Pinay mit der Regierungsbildung betraut, nachdem sein so glänzender Gesinnungsgenosse Paul Reynaud am Widerstand der Linksparteien gescheitert ws . Pinay, Besitzer einös kleinen Unternehmens, Vorsitzender der Föderation der französischen Lederindustrie, kann für sich in Anspruch nehmen, den Typ des durchschnittlichen Franzosen in vorbildlicher Weise zu verkörpern. Sparsam und abseits jeder demagogischen Aktion, mit dem gedämpften Optimismus eines erfahrenen Fabrikunternehmers ausgestattet, ging er daran, den französischen Staatshaushalt in Ordnung zu bringen. Dabei erfreute er sich einer Reihe psychologischer sowie außenpolitischer Vorteile, die seinem Vorgänger nicht gegeben waren. Das französische Volk, bewußt der Gefahr einer ernsteren Wirtschaftskrise und müde des unfruchtbaren schnellen Wechsels der Regierungen, sehnte sich nach Ordnung und Sicherheit. Die wirtschaftliche internationale Konjunktur begann sich zu verbessern. Das Steigen der Rohstoffpreise wurde durch eine leichte Baisse abgelöst, und die Aussichten fgr einen Waffenstillstand in Korea erschienen noch nie so günstig wie in diesen Wochen. Eine vorübergehende internationale Entspannung kündigte sich an.

Pinay konnte sich von Anfang an auf •eine ihm sehr gewogene öffentliche Meinung stützen. Die mittleren und kleinen Unternehmer sahen in dem Mann, der aus ihren Reihen hervorgegangen war,

den Retter vor neuen übermäßigen Steuerforderungen. Die Großindustrie, begrüßte die Aktion des Regierungschefs, selbst die Gewerkschaften zeigten sich ursprünglich abwärtend und meldeten keine Lohnforderungen an, während sich die Bauernschaft neutral verhielt. Die letzten Parlamentswahlen hatten durch die Stärkung der Gruppen der Unabhängigen die parlamentarischen Voraussetzungen für ein liberales Experiment geschaffen.

Freilich, die traditionellen Stützen aller Regierungen der Vierten Republik, MRP und SFIQ, vermochten sich nicht für ein absolut liberales Regime auszusprechen. Besonders das MRP stand vor einem Gewissenskonflikt. Um jedoch die europäische Politik Schumans weiterhin zu garantieren, Opferte die christlich-demokratische Partei das seit langem von ihr besetzte Wirtschafts- und Sozialministerium, beschwichtigte den linken Flügel (Buron, Barcon) und begann, wenn auch mit Einschränkungen, Pinay zu unterstützen. Die als regierungsstürzend bekannten Sozialisten zeigten sich mehr als ruhig. Das in der Opposition stehende RPF (die Sammelbewegung De Gaulles’) spaltete sich auf, und der liberale rechte Flügel konstituierte sich als eigene Parlamentsgruppe, welche die Regierung stützte. Pinay fand schließlich beinahe ungeteilte Zustimmung bei den Radikalen, wenngleich Faure und Mendts France sich nicht allen Thesen Pinays anschließen wollten. Mit einer so verhältnismäßig homogenen Regierungsmehrheit begann Pinay, obwohl er anfänglich selbst nicht an die

Möglichkeit geglaubt hatte, eine wirklich arbeitsfähige Regierung zu bilden.

Sein erstes Ziel war es, das Vertrauen der breiten Massen für eine Politik der Regierung auf eine lange Sicht hin zu gewinnen. Dies ist ihm für die ersten sechs Monate seiner Amtszeit restlos gelungen. Alle bisherigen Regierungen hatten ausschließlich zum Mittel der Steuerschraube gegriffen, um der Finanzprobleme Herr zu werden. Pinay ersetzte diese Methode durch das System innerer Anleihen, um ein Gleichgewicht im Finanzhaushalt herzustellen. Um die große Anleihe für den Sparer besonders interessant und sicher zu gestalten, wurde diese Anleihe mit der Goldklausel ausgezeichnet. Die Staatsführung hoffte, die großen versteckten Goldvorräte der Nation in den Kreislauf der Wirtschaft zurückzuführen. Die Anleihe entsprach nur sehr relativ den sehr hochgesetzten Erwartungen. Man hatte mit 400 Milliarden gerechnet und erntete im ganzen 180 Milliarden. Natürlich erhöhte sich die Staatsschuld durch diese Anleihe. Eine fühlbare Entlastung in Wirtschaftlicher Hinsicht, die dem Gesamtvolk zugute gekommen wäre, trat nicht ein. Pinay ging dazu über, die sich steigernden Lebenshaltungskosten durch eine freiwillige Baisse der Wirtschaft, besonders im Sektor der Konsumgüter, zu bekämpfen.

Frankreich ist neben Österreich eines der OECE-Länder, das eine der höchsten Steigerungen der Lebenshaltungskosten aufzuweisen hat (Ende 1950: Index 100, 1. September 1952: Index 138). Die Baisse ging entgegen dei seinerzsitigen Baisse Blum 1937, welche durch die Regierung autoritär verfügt worden war, von der Überlegung aus, daß die französische Wirtschaft Interesse daran habe, die Kaufkraft der Bevölkerung unter allen Umständen zu heben. Sehr bald jedoch stieß Sich Pinay an den Forderungen der mächtigen Zwischenhandelsorganisationen, und einmal mehr zeigte sich, daß der Egoismus gewisser Wirtschaftsgruppen einer allgemeinen Sanierung des Staates entgegen stand. Dazu wurden die Gewerkschaften unruhig und begannen mit Lohnforderungen dieses Gefüge, das sich im wesentlichen auf die Popularität und den Glauben an einen Mann stützt, zu unterhöhlen.

Bedenklich erscheint es. daß Pinay in sein System eine Steueramnestie einbaute, um versteckte oder Fluchtkapitalien zu erfassen. Er suchte ferner das Budget durch Unterdrückung der Investierungen in der Höhe von mehreren zehntausend Milliarden Francs auszugleichen. Schließlich griff er auf 400 bis 500 Milliarden Schatzscheine zurück, die ebenfalls der Stützung des Gleichgewichts des Budgets dienten. Die Ungewißheit über weitere amerikanische Hilfe, die Unsicherheit über den Umfang der internationalen Verpflichtungen sowie die Fortdauer des Indochinakrieges sind jene Imponderabilien, die das Experiment Pinays ständig bedrohen.

Halten wir fest: Pinay vermochte wohl eine gewisse Stabilität der Preise zu erzielen. Die Großhandelspreise sind jedoch wieder leicht im Ansteigen, und eine umfangreiche Baisse wurde nicht eingeleitet. Man spricht von einem liberalen Experiment. Aber wir gehen nicht fehl, wenn wir feststellen, daß Pinay reiner Empirist ist und seine Politik immer stärker diri

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