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Nur auf dem Papier

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Aber der Erzbischof von Recife, Helder Camara, das tönendste Sprachrohr im Kampf gegen die chronische Hungersnot in der Zone, sagte kürzlich: „Niemand kann bestreiten, daß die Regierung die größten Investitionen unternimmt, um neue Industrien zu schaffen, aber ihre Ergebnisse sind lächerlich gering. Die Armen werden immer ärmer und die Reichen täglich reicher. Die ,Sudene' funktioniert, solange ihre Pläne nicht mit den Interessen der Großgrundbesitzer in Konflikt geraten; in diesem Augenblick kommt alles wie durch ein Wunder zum Stillstand. Es gibt Behörden für die Anwendung der Agrarreform, wie die ,Banco de Brasil', .Sudene', das Zuckerinstitut, das .Brasilianische Institut für Agrarreform' öder das .Nationalinstitut für landwirtschaftliche Entwicklung'; aber keines dieser Institute hat Erfolg, wenn die Interessen der Latifundien angetastet werden. Es handelt sich um einen ersten Reformversuch, aber alles bleibt auf dem Papier. Im übrigen beobachtet man dasselbe Phänomen in ganz Lateinamerika. Ich bin davon überzeugt, daß Präsident Frei, der die Agrarreform in Chile zu verwirklichen sucht, sie nicht zu Ende führen können wird; .etwas' wird vorher geschehen.“

Und die Steuerreform?

Die Planer der „Allianz für den Fortschritt“ weisen weiter darauf hin, daß auf dem Gebiet der proklamierten Steuerreformen große Erfolge aufzuweisen seien. Daran ist richtig, daß in Chile und Brasilien jetzt auch die Unternehmer Einkommensteuer bezahlen, während sie sich ihr bisher systematisch und erfolgreich entzogen; zum ersten Male will man in Brasilien sogar Polizei und Strafgerichte zur Steuererhebung einsetzen. Die Kapitalflucht hat zwar nicht nachgelassen, aber die Kapitalisten lassen sich jetzt nicht mehr Bankbriefe über ihre Nummemkonten aus der Schweiz nach Südamerika schicken. Die Statistiken über die gesteigerten Steuereingänge müssen im übrigen mit großer Vorsicht aufgenommen werden, da sie Zahlen in Landeswährung aufweisen und die Inflationskurve oft höher liegt als die prozentuelle Zunahme der Steuereinnahmen.

Die Herrschaft der „Dinosaurier“

Die „Dinosaurier“ sind also keineswegs im Aussterben begriffen, sondern sie beherrschen weiter nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch einen großen Teil der Industrie und des Bankwesens in Lateinamerika, wenn auch in Staaten wie Brasilien zum Beispiel das Auslandskapital das inländische auf vielen Gebieten bereits überflügelt. Die von der „Allianz für den Fortschritt“ geforderte Rationalisierung auf dem Agrar- und dem Industriesektor scheitert also an dem Widerstand der sogenannten „Oligarchie“, die aber ideologisch und politisch Parteigänger der Vereinigten Staaten ist und bleibt.

Alle Planer sind sich aber weiter darüber einig, daß das Lebenshaltungsniveau in den lateinamerikanischen Ländern nur dann gehoben werden kann, wenn die — stets maßlos überbesetzte und häufig korrupte — Verwaltung aus dem Leerlauf der Bürokratie befreit wird.

Interimslösung für die Beamten

Die Beamtenschaft bildet in fast allen lateinamerikanischen Staaten den Mittelstand. Ihre Gegnerschaft gegen die „Allianz für den Fortschritt“ beruht gleichfalls aus Gruppeninteressen, aber auch denen der Politiker. Ihr Abbau ist heute in erster Linie eine soziale Frage. In Brasilien erwägt man zur Zeit, den Beamten die Chance zu geben, in die 1 Privatwirtschaft überzutreten, indem sie drei Jahre lang ihr halbes Gehalt beziehen, ohne in der Behörde zu ; arbeiten, und sich dann entscheiden : können, ob sie das Beamtenverhält-

nis endgültig aufgeben oder wieder : voll aufnehmen wollen. In Argenti- ! nlen hat die Militärregierung ein

Gesetz erlassen, nach dem sie Beam- . ten und Angestellte der Staatsgesell- L schäften mit Übergangsgeldem usw. s entlassen kann, zögert aber, die soziale Situation durch massive An-

Wendung des genannten Gesetzes i gegenüber etwa 100.000 überflüssigen

Beamten zu verschärfen.

Ein „Staat der Jugend“?

Die berufsmäßigen Optimisten 1 weisen weiter darauf hin, daß zehn-

tausende neue Schulen mit Beiträgen ! der „Allianz für den Fortschritt“ er- richtet worden seien. Ein flüchtiger ’ Blidc auf die Bevölkerungszunahme zeigt aber, daß die Schulbauten in keiner Weise mit ihr Schritt halten. Auch hier bietet Brarilien das interessanteste Beispiel: Zwei Millionen . Kinder in schulpflichtigem Alter . bleiben völlig ohne Unterricht. Nur . zwei Prozent der Schulkinder kom- ! men in höhere Schulen. Nur zwanzig . Prozent der Volksschullehrer haben . selbst auch nur die Grundschule . ganz absolviert. Aber auch diplomierte Volksschullehrer wissen oft nicht, was die „UN“ ist, wie bei einer Umfrage festgestellt wurde, t Brasilien ist ein „Staat der Ju- l gend": Infolge der geringen Lebens- t erwartung —bei einem Durchschnitt - von 45 Jahren, der dm nordöstlichen

Hungergebiet auf 35 Jahre sinkt — sind 43 Millionen Brasilianer, das heißt mehr als die Hälfte der Bevölkerung, noch nicht 19 Jahre alt. Deshalb ist der Fehlschlag der „Allianz für den Fortschritt“ auch auf dem Erziehungssektor von tragischer Bedeutung.

Das Dilemma

Die Versuche der Vereinigten Staaten, durch eine „friedliche Revolution“ den Abgrund eines Jahrhunderts in Staat und Verwaltung zu überspringen, scheitern an dem Widerstand, den die Parteigänger der USA — die „Oligarchie“ — und, bis zu einem gewissen Grade, der Mittelstand aus Gruppeninteressen dieser Planung entgegenbringen. Die einzigen, die für eine grundlegende Veränderung eintreten, sind die „Revolutionäre“ jeder Färbung, die aber ideologisch und machtpolitisch gerade Gegner der USA sind. Darin liegt das unzulänglich erkannte Dilemma der Vereinigten Staaten in Lateinamerika.

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