7090183-1994_26_16.jpg
Digital In Arbeit

Nur eine lästige Bürde

19451960198020002020

Eine Mammuttour durch Europa absolviert Bill Clinton ab 6. Juli: Estland, Polen, Deutschland, Italien. Mausert sich der US-Präsident zum Außenpolitiker?

19451960198020002020

Eine Mammuttour durch Europa absolviert Bill Clinton ab 6. Juli: Estland, Polen, Deutschland, Italien. Mausert sich der US-Präsident zum Außenpolitiker?

Werbung
Werbung
Werbung

Die Enttäuschung über Präsident Clinton ist in allen Landesteilen und Bevölkerungsschichten spürbar, am stärksten wohl unter seinen eigenen Wählern, und da wiederum am stärksten beim Bildungsbürgertum. Außenpolitisch gilt er als eine Null, doch das hätte man hoch verziehen, wenn er innenpolitisch Erfolge vorweisen könnte. Anfänglich hieß es, die Reform des Gesundheitswesens habe Vorrang, jeder Amerikaner solle in den Genuß einer Krankenversicherung kommen. Das zog, nur stellte sich heraus, daß die neue Regierungsmannschaft keinerlei fertige Konzepte hatte.

Es trifft zwar zu, daß die große Mehrheit der Amerikaner sich weitaus mehr für ihre lokalen Belange interessiert als für den Lauf der Welt, doch übt sie nicht viel Einfluß auf die Politik aus, zu den Wahlurnen gehen ohnehin die wenigsten von ihnen. Also ist doch die Stimme des Bildungsbürgertums maßgebend, vor allem in den Städten der Ostküste: New York, Philadelphia, Washington sowie in den Großstädten -von Texas und Kalifornien. Diese Bevölkerungsschicht mißt der Außenpolitik größere Bedeutung zu, räumt ihr sogar den Vorrang ein.

Hier hält man es für einen Skandal, daß der Präsident die Außenpolitik an das State Departement abgetreten hat - wie eine lästige Bürde. Warren Christopher aber gilt als undurchsichtig. Er ist mit Sicherheit der unpopulärste Außenminister, den das Land seit Jahrzehnten hat.

Die einzige außenpolitische Linie, die sich bei Clinton feststellen läßt, ist die absolute Priorität, die er den Beziehungen mit Rußland einräumt. Gegenwärtig dreht sich alles nur darum, Jelzin zu retten. Alle anderen weltpolitischen Belange werden diesem Ziel untergeordnet oder dürfen keine Rolle spielen.

Deutlichstes Beispiel dafür ist Serbiens Überfall auf Bosnien, wo die USA sich bislang zurückgehalten haben, weil die Regierung Jelzin sich gezwungen fühlt, aus innenpolitischen Gründen für Serbien Partei zu ergreifen. In den USA wächst jedoch langsam die probosnische Stimmung. Der starke jüdische Bevölkerungsanteil in der Bildungsschicht der tonangebenden Großstädte zieht den Vergleich zum Holo-kaust und verlangt ein US-Eingreifen zur Rettung Bosniens. Gerade diese Bevölkerungsgruppe hatte Clinton gewählt, nicht zuletzt, weil er Maßnahmen gegen Serbien versprach.

Nun hat das Repräsentantenhaus mit großer Mehrheit gefordert, die Waffensperre für die Bosnier solle aufgehoben werden. Clinton hat ungewöhnlich schnell und scharf reagiert, er werde das nicht zulassen. Die Abstimmung schien ihn während seines Europabesuchs im Mai überrascht zu haben, und dort kam sie ihm besonders ungelegen. Dabei ließ sich diese Entwicklung jedoch klar voraussehen, sie ist auch nicht aufzuhalten. Hält der Präsident an seiner bisherigen pro-russisch-serbischen Politik fest, kommt es mit Sicherheit zu einem Eklat. Die seit Monaten schon erhobene Forderung nach Rücktritt von Außenminister Warren Christopher wird immer lauter.

Die „Rettet-Jelzin-Aktion" mag zwar aus einer übergeordneten Perspektive sinnvoll und sogar lebenswichtig erscheinen, unter den politischen Entscheidungsträgern in Washington findet sie jedoch wenig Anklang. Rußland-Experten sehen keine Erfolgschancen, weil alles hineingepumpte Geld wieder abfließt. Nutznießer der Wirtschaftshilfe ist nicht Rußland, sondern Zypern. Die an Moskau vergebenen Milliarden sammeln sich alle in Nikosia, das für die Nutznießer der neuen Ordnung zur wichtigsten Auslandsniederlassung geworden ist. Vor mehr als einem Jahr bereits hat der Wirtschaftswissenschaftler Sergej Chruschtschow diese Entwicklung deutlich vorausgesehen und in allen Einzelheiten in der amerikanischen Presse erläutert - verbunden mit der eindringlichen Warnung: kein Geld an Rußland!

Die „starken Männer" in Afrika und Asien fühlen sich vom Druck der Großmächte befreit und machen nun ihre Spaße über den „kranken Mann im Weißen Haus". Ob Somalias Aidid oder Koreas Kim Il-Sung, sie alle legen es darauf an, die USA herauszufordern, weil es ungefährlich ist, sie aber in den Augen mancher Bevölkerungskreise zu Helden macht. Die indische Presse bringt lange Aufsätze über Clintonitis, was so viel wie Ruderlosigkeit und Un-überschaubarkeit bedeuten soll. Der Oberst von Tripolis kann sich gar nicht genug tun mit seinen Spaßen: seine Söhne wollen unbedingt die USA besuchen, der eine möchte Clintons Tochter heiraten.

In Lateinamerika dagegen manifestiert sich US-Politik wieder sehr entschlossen, wie in den besten Zeiten des Imperialismus. Die Kolumbianer wissen ein Lied davon zu singen. Wer aber macht diese Politik? Sicher nicht Bill Clinton. Zwischen Völlerei und Joggen wird die Arbeitszeit immer kürzer.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung