
Orbán und die Mehrheiten: „Nicht selbst nachdenken“
Bei Ungarns Umgang mit Homosexualität und Transgender-Themen geht es längst um viel mehr: nämlich um den großflächigen Umbau eines Staates mittels Feindbildern.
Bei Ungarns Umgang mit Homosexualität und Transgender-Themen geht es längst um viel mehr: nämlich um den großflächigen Umbau eines Staates mittels Feindbildern.
Für Politik interessiere sie sich nicht, sagt Maria. Und trotzdem ist sie hier an diesem Samstag. Denn, so sagt sie: „Wenn sie Menschenrechte angreifen, ist mir das nicht egal.“ Maria ist eine von 30.000 Menschen, die an diesem Tag die Straßen Budapests einnehmen. Weit mehr als erwartet sind gekommen zur 25. Budapest Pride. Ein Vierteljahrhundert nach dem ersten Marsch ist der Aufzug diesmal brisanter denn je, setzt Ungarns Regierung doch Homo- und Transsexualität zunehmend mit Pädophilie gleich. Das umstrittene neue Gesetz stellt die Zurschaustellung von „LGBT-Inhalten“ vor Minderjährigen unter Strafe. Filme wie „Harry Potter“ dürfen nun nicht mehr tagsüber im Fernsehen gezeigt werden, Bücher mit anderen Familienbildern als Vater/Mutter/Kind müssen mit Warnhinweisen versehen werde. Eine Budapester Buchhandlung wurde bereits mit umgerechnet 700 Euro bestraft, weil sie ein Märchenbuch über eine Regenbogenfamilie ohne Warnkennzeichnung verkauft hatte.
Von diesem zunehmend aggressiven Klima ist bei der Parade oberflächlich nichts zu merken. Tausende, darunter auch viele Ältere und Familien, haben sich versammelt. „Auch wenn wir nicht wissen, wie düster unsere Situation noch wird: Wir werden uns später erinnern, dass wir heute hier waren“, schallt es vom Wagen an der Spitze. Als sich der Zug zu Queens „Don’t Stop Me Now“ in Bewegung setzt, bricht Jubel aus. Einige Schaulustige stehen wohlwollend an der Seite, Regenbogenfahnen auf Balkonen sieht man aber selten – das Thema ist für viele tabu.
Polnisches Importthema
„Ich habe nichts gegen diese Leute. Jeder soll zu Hause machen dürfen, was er will“, sagt ein 57-Jähriger. Dass aber „im Westen“ schon in der Volksschule über Geschlechtsumwandlungen gesprochen werde, findet er falsch. Und dann sagt er: „Wir haben andere Probleme.“
Eine Sichtweise, die laut dem Politikwissenschafter Péter Kréko weitverbreitet ist. „Ungarn ist kein besonders intolerantes Land. Es gibt aber einen großen Teil der Wählerschaft, der auf die von der Regierung geschürte Homophobie anspricht“, sagt Kréko. Premier Viktor Orbán habe das Thema LGBT aus Polen importiert, wo Präsident Andrzej Duda im Vorjahr seine gefährdete Wiederwahl damit gewann. Für die Parlamentswahl im Frühling 2022 kommt ihm ein neues Feindbild – 2018 waren es Migranten und George Soros – nur recht. Lenkt es doch von Korruptionsskandalen und der Pegasus-Affäre (siehe links) ab: Als bekannt wurde, dass die Regierung Oppositionelle und Journalisten abhören ließ, verkündete Orbán also prompt eine Volksabstimmung zum Thema LGBT.
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