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Panik ist falsch, Vorsicht ist geboten!

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Müssen wir vor Rußland wieder Angst haben? Harte Worte Jelzins und seines Außenministers Kosy-rew in Richtung Westen lassen nichts Gutes erwarten. Experten im Gespräch mit der FURCHE.

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Müssen wir vor Rußland wieder Angst haben? Harte Worte Jelzins und seines Außenministers Kosy-rew in Richtung Westen lassen nichts Gutes erwarten. Experten im Gespräch mit der FURCHE.

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Uber die „NATO-Spiele-rei” - Stichwort: Osterweiterung - sind Diplomaten aus EU-Ländern in Moskau nicht sehr glücklich. Das betont Österreichs Ex-Botschafter in Moskau, Friedrich Bauer, in einem Gespräch mit der furche. Der Diplomat verweist darauf, daß man in .der jetzigen Periode der Instabilität, die durchaus noch 20 Jahre anhalten könne, „sehr wohl Angst vor Rußland” haben müsse - „jedoch nicht eine Angst, die lähmt, die unfähig macht zum Dialog”.

Bauer plädiert im Zusammenhang mit Brandreden des russischen Präsidenten Boris Jelzin und jüngst auch seines Außenministers Kosyrew an die Adresse des Westens „für eine große Wachsamkeit gegenüber Rußland”. Allerdings müsse man auch fragen, was man sicherheitspolitisch mit Rußland anfangen wolle. „Eigentlich zäumt der Westen das

Pferd von der falschen Seite auf. Da spricht man von einer NATO-Mitgliedschaft für Länder wie Litauen, Lettland, die ihre demokratische Legitimation noch nicht erbracht haben. Lettland hat zum Beispiel die gespaltene Staatsbürgerschaft, das reizt die Russen, die angetreten sind, die 25 Millionen Russen im Ausland - vormals in der Sowjetunion - zu .”schützen. Diese Dinge darf man nicht übersehen.” Zudem sei die seelische Befindlichkeit der Russen, die ein Weltreich verloren haben, äußerst getroffen, die alte ;>,Einsperrungs-phobie” tauche wieder auf.

In Rußland stehen auch Wahlen vor der Tür. Ex-Botschafter Bauer: „Aufgrund dieser Situation kann man jetzt mit den Russen nicht reden, das ist klar, vor den Wahlen spielen sie die alte Walze ab. Aber: Wir müssen Rußland stärker in unsere sicherheitspolitischen Überlegungen miteinbeziehen. In Wirklichkeit steckt auch eine große Denkfaulheit dahinter. Die früheren Warschauer-Pakt-Staaten gehören meiner Meinung nach möglichst rasch in die Europäische Union integriert, das wäre billiger als eine NATO-Aufnahme.”

Der Schweizer Sicherheitsexperte Curt Gasteyger sieht sowohl in den bevorstehenden Wahlen als auch in der gefühlsmäßigen Lage der Russen als Brüder der Serben Gründe für die härteren Töne aus Moskau. „Einerseits”, so Gasteyger zur Furche, „geht es um ein größeres Selbstbewußtsein, um ein Pochen darauf, daß man Großmacht ist und sich nicht alles gefallen läßt. Andererseits hat Moskau im Zusammenhang mit dem Krieg in Ex-Jugoslawien das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen und sich entsprechend wieder wehren zu müssen.”

Der Westen, sprich EU, USA und NATO, sollten vorsichtig, aber trotzdem kooperativ darauf reagieren, fordert Gasteyger und sieht auch „gute Ansätze dafür” gegeben. „Ich persönlich glaube nicht, daß wir mit der NATO-Oster-weiterung viel von dem erreichen, was wir von der NATO oder die osteuropäischen Staaten von ihr erhoffen. Es zeigt sich aber sehr deutlich, daß auch innerhalb des Westens, innerhalb der Vereinigten Staaten, diese NATO-Erweite-rung eher wieder in den Hintergrund gestellt wird, weil man doch sieht, daß sie kontraproduktiv ist, sich militärisch nur schwer vertreten läßt und letzten Endes sogar selektiv ist. Das ist eine von mir aus eher begrüßte vorsichtigere Haltung gegenüber der NATO-Ausweitung.”

Eine neue bipolare Struktur in Europa müßte, so Gasteyger, unbedingt vermieden werden, wobei er schon die Gefahr sieht, daß man da erneut „hin4 einschlittern” könnte, „ohne daß es die eine oder andere Seite eigentlich will”.

Die Angst vor Rußland ist momentan unbegründet, betont der Sicherheitsexperte. Er verweist auf die Schwäche und

Desintegration der Armee sowie auf die „enormen Aufgaben, die die Russen vor sich haben, von denen sie bis jetzt nur einen Bruchteil gelöst haben”. „Wenn ich das alles bedenke, dann kann ein besonders starkes außenpolitisches Auftre ten, wenn möglich sogar von einer neukonstituierten Armee unterstützt, gar keine Priorität haben. Die Prioritäten sind eindeutig innenpolitischer Natur-und dazu würde ich natürlich die vielen Sorgen und Probleme hinzuzählen, die sich in den neugebildeten Republiken oder Staaten nun deutlich manifestieren.”

Gasteyger sieht sehr wohl das starke Sicherheitsbedürfnis des ehemaligen sowjetischen Glacis, aber er meint, daß diese Staaten erst selbst regional eigene Stabilisierungspolitiken durchführen müßten, um in die Europäische Union oder in die NATO aufgenommen werden zu können. „Ich habe den Verdacht, diese Länder glauben, mit einem EU-Beitritt alles lösen zu können, anstatt die Lösung einmal bei sich selbst zu suchen.”

Wolfgang Leonhard, der deutsche Rußlandkenner par excellence, glaubt nicht, daß die „bedenklich schrillen Töne” aus Moskau, verbunden mit Anschuldigungen, teilweise sogar mit Drohungen verknüpft, eine Rückkehr zum Kalten Krieg bedeuten könnten. „Nein, davon kann zumindest gegenwärtig keine Rede sein”, hält er im Gespräch mit der furche fest. „Auch die nationalautoritären Kräfte in Moskau wissen, daß Rußland es sich nicht leisten kann, die Beziehungen zum Westen abreißen zu lassen.” Trotz einer „deutlich bemerkbaren Abkühlung der Beziehung Rußlands zum Westen” wäre jedoch nach Meinung Leonhards „Panik sicher falsch”. „Wohl aber wäre eine Besorgnis, eine Vorsicht, eine genaue Analyse der Situation in Bußland am Platz. Für den Westen, darunter auch Österreich, kommt es darauf an, die berechtigten nationalen Interessen Rußlands zu berücksichtigen, sich aber gegen ein Weltmachtstreben Moskaus zu wenden und Rußland nicht zu gestatten, die Rolle eines internationalen Schiedsrichters zu spielen.” Leonhard verweist auf die Forderungen breiter Kreise der russischen Bevölkerung, sogar der russischen Demokraten, daß keine internationale Frage ohne Beteiligung Rußlands gelöst wird. Angesichts des Verlustes des Weltmachtsstatus gebe es da „eine sehr ernste Unsicherheit, die sich in der Forderung nach einer Gleichberechtigung und Anerkennung als Großmacht ausdrückt”. Auch das Gefühl der Verwandtschaft zwischen Russen und Serben spielt hier eine wichtige Rolle, da in Osteuropa historische Traditionen ernster genommen werden als im Westen, betont Leonhard. „Daher existieren in breiten Kreisen der russischen Bevölkerung pro-serbische Sympathien, auf die sich die Führung in Moskau jetzt stützen kann.”

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