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Persönlicher Mut — eine polnische Grundeigenschaft

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Polen ist unter den Ländern mit „interessanten Zeiten" ein Sonderfall. In der mehr als vierzigjährigen kommunistischen Epoche war es ein Land, in dem die psychologischen Mechanismen der zentralen Macht, die Motive des einzelnen Menschen, das Entstehen des Widerstandes aus einem betäubten Idealismus des Anfangs, deutlicher als in jedem anderen Land ähnlichen Schicksals offenlagen. Dies hatte mit der Tatsache einer verblüffend starken katholischen Kirche zu tun. Die in geradezu allen Lebensbereichen spürbaren Spannungen zwischen dem politischen Zentralismus der kommunistischen Macht und dem aus der Bevölkerung spontan aufkommenden Einfluß der Kirche schuf einen geistigen und auch sehr realen Freiraum, wie es ihn in keinem anderen kommunistisch beherrschten Staat gab.

Auch jene Intellektuellen, die primär keineswegs sehr katholisch dachten und lebten, fanden einen Freiraum, der ihnen enorm wichtige Beobachtungen erlaubte und oft sogar die unfaßbare Möglichkeit bot, ihre Werke zu veröffentlichen, ihre Theaterstücke zu spielen. Immerhin wurden damals fast alle Satiren von Slawomir Mrozek aufgeführt. So problematisch Polens Lage auch sein mag, ist seine Kultur wie ein Heilbad, eine Verjüngungsquelle jener europäischen Kultur, die mir in die Zukunft zu führen scheint. Daß dies seit der Kriegszeit bis heute trotz allen grauenvollen Situationen möglich war, geht zudem auf eine polnische Grundeigenschaft zurück, die ich stets bewundert habe: Auf persönlichen Mut. In Polen, so scheint es mir, ist der Prozentsatz mutiger Leute in Krisenlagen und im Alltag größer als anderswo. Ich kenne dort mehr Leute, die alles riskieren für ihre Überzeugung, die keine oder nicht so leicht Kompromisse machen wie in anderen Ländern. Natürlich gibt es auch dort Schurken, sogar in großer Zahl. Sie sind die Provokation für die Better und Humanisten, die nicht nachgeben. Im Widerstand gegen den Kommunismus, gegen die geballte täglich spürbare Macht, sind Bewußtheiten, sind Qualitäten erhalten geblieben, die im Wohlfahrtsbad und dem allgemeinen Relativismus der Parole „Anything goes" wirtschaftlich florierender Demokratien in Verlust geraten sind. Polnische Schriftsteller wie Czeslaw Milosz, Zbigniew Herbert, Andrzej Szczypiorski, Historiker wie Wladyslaw Bartoszewski und viele andere bezeugen Positionen und wirken aus einem kulturellen Bereich, der zu den Grundelementen der europäischen Kultur gehört. Worte von Czeslaw Milosz, wie die folgenden, sind im Bereich westlicher demokratischer Publizistik, die sie rezipieren soll, kühn, denn sie widersprechen dem dortigen Trend:: „Wer bin ich, wer bin ich gewesen / Ist nicht mehr so wichtig. Weil mich die anderen / Edlen, Großen aufrechthalten / Denk ich an sie. An die / Seins-Hierarchie / Die ihren Glauben lebten ..." Oder Zbigniew Herbert in seinen Gedichten „An Marc Aurel", „Fortinbras Klage", „Herrn Cogitos Vermächtnis": „Gehe aufrecht so andere knien / wo sie sich abwenden in den Staub fallen / du bist davongekommen nicht um zu leben / die Zeit deine Zeit ist kurz bemessen Zeuge / bleibe tapfer wenn der Verstand versagt / nur dies zählt in der allerletzten Bilanz."

Wir bewegen uns trotz Balkankrieg, trotz IRA in Irland und baskischen Terroranschlägen schon aus wirtschaftlichen und technischen Gründen auf ein gemeinsames, ein vereinigtes Europa zu. Die Kultur schuf die Grundlage für dieses Europa, ja überhaupt den Begriff Europa, und die Kultur wird die Aufgabe haben, diese Entwicklung zu ermöglichen, zu fördern, den Integrationsprozeß als friedenbringende Aufgabe, als humanistische Evidenz ebenso im Sinn Goethes wie Bichard Coudenho-ve-Kalergis voranzubringen.

Dabei wird die Kultur als gemeinsame, alle Vielfalt vereinigende Lebensform den entscheidenen Ausschlag geben. Bücher, Schulen, Universitäten, Künste, natürlich die Wissenschaft und die Literatur werden eine große Rolle spielen. Im westlichen, seit 1945 wiederbestehenden demokratischen Bereich (die Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland scheiterten verhältnismäßig früh) kamen die existentiellen Situationen und damit der existentielle Ernst, das Bewußtsein von bedrohender Wirklichkeit, weitgehend abhanden. In Polen ist dieser existentielle Ernst noch gegenwärtig, und ich habe die Zuversicht, daß, trotz allen Krisen der neuen Demokratie, vor allem im Bereich der Kultur dieser Ernst erhalten bleibt. Der Zustrom europäischer Kultur aus Polen wird in Zukunft von vielleicht rettender Bedeutung sein. Es ist gut, wenn die polnischen Dichter, Denker, intellektuellen Politiker sich dies tief einprägen.

Ich stehe hier als Österreicher und freue mich über die europäische, grenzüberschreitende Dimension dieser Leipziger Buchmesse. Ich darf Ihnen auch verraten, daß die Vorbesprechung für die Eröffnung in Warschau im Österreichischen Kulturinstitut stattgefunden hat, das dort kürzlich sein dreißigjähriges Bestehen feiern konnte. Als neutraler Staat hatte Österreich die Möglichkeit, in Polen (und später in Ungarn) ein Kulturinstitut zu errichten, das für die Opposition von erheblicher Bedeutung wurde. Fast alle Intellektuellen des demokratischen Widerstandes gingen dort aus und ein. Manchmal glich das Institut auch einem zensurfreien Postamt. Die bundesdeutschen Institutionen und Karl Dedecius haben unsere frühen Initiativen weit übertroffen, trotzdem muß ich erwähnen, daß unser sehr kleines Land mit weitaus schwächeren finanziellen Mitteln seine historisch gewachsene Verantwortung wahrgenommen hat - wie ich Ihnen versichern kann: Mit viele Liebe und Idealismus.

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