Pipeline

Pipeline-Lecks in der Ostsee: Sabotage mit schemenhaftem Täterprofil

19451960198020002020

Die Nordstream-Gaspipelines sind gezielt beschädigt worden. Über die Urheberschaft herrscht nach wie vor Uneinigkeit – und es gibt inoffizielle Denkverbote.

19451960198020002020

Die Nordstream-Gaspipelines sind gezielt beschädigt worden. Über die Urheberschaft herrscht nach wie vor Uneinigkeit – und es gibt inoffizielle Denkverbote.

Werbung
Werbung
Werbung

Es braucht Jahre, um Reputation aufzubauen. Aber es reichen drei veröffentlichte Worte plus kurzem Anhang, um alles zum Einsturz zu bringen. Das durfte nun Radosław Sikorski erfahren. Der polnische Ex-Außenminister (2007–2014) und jetzige EU-Parlamentarier dankte am 27. September den USA via Twitter für die kaputten Pipelines Nordstream (NS) I und II. „Thank you, America“, schrieb Sikorski, es sei „eine kleine Sache, die freut“. US-Präsident Joe Biden soll vor gut einem halben Jahr bei einer Pressekonferenz die Tat indirekt angekündigt haben; der 59-jährige polnische Politiker, der exzellente Kontakte zu US-Neokonservativen hatte, verwies darauf mit einem Link.

Die Tweets Sikorskis, der 2014 auf dem Höhepunkt der Maidan-Proteste eine wichtige Vermittlerrolle spielte, sind inzwischen gelöscht. Außer der polnischen Regierungspartei PiS, die Sikorskis Einlassungen ausschlachtet, scheint die politische Welt in Europa seine These verdrängen zu wollen. Diese lautet(e): Hinter der Sabotage stehen die USA. Und in den Augen Sikorskis, eines ausgewiesenen Transatlantikers, wäre dies sogar gut so.

Antony Blinken sieht „ungeheure Chance“

Was ist bislang (Stand 4. Oktober) bekannt? Beide Röhren der deutsch-russischen Gaspipeline Nordstream (NS) I sowie eine der beiden Röhren von NS II sind am 26. September durch vier Detonationen und dadurch entstandene große Lecks bis auf Weiteres unbrauchbar geworden. Aus ihnen traten tagelang technische Gase und klimaschädliches Methan aus.

Bei der zweiten der beiden NS-II-Röhren war der technische Zustand nicht abschließend geklärt. Am 3. Oktober teilte Gazprom jedoch mit, die Röhre könne für Gastransporte genutzt werden, wenn „die Integrität des Systems von den Aufsichtsbehörden geprüft und verifiziert“ werde. Die Schäden entstanden in schwedischen und dänischen Gewässern, sowohl die Europäer als auch Russland kündigten Untersuchungen an. Beide Seiten gehen inzwischen von Sabotage aus – wenn auch mit unterschiedlichen Täter-Vermutungen.

Während der Kreml auf eine mögliche US-Täterschaft weist, auch unter Berufung auf Sikorskis Twitter-Texte, sind westliche Politiker in der Schuldzuweisung weniger konkret. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell kündigte eine „robuste und gemeinsame Reaktion“ auf die Zerstörung der Infrastruktur an.

Auch im Fall der Pipeline-Zerstörung lohnt sich eine unvoreingenommene Analyse nach dem Prinzip des ,Cui bono?‘, also danach, wer einen möglichen Nutzen daraus ziehen kann.

In wichtigen EU-Medien weisen Publizisten und Experten indes vorwiegend in Richtung Russland als wahrscheinlichen Täter. Präsident Wladimir Putin wolle Angst säen und den Gas-Markt in der EU weiter destabilisieren, lautet eines der Argumente. Laut Johannes Peters, einem deutschen Experten für maritime Strategie und Sicherheit am Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK), gehe es dem Kreml zudem um „Messaging, also darum, Geheimdienstkreisen und Militärs zu zeigen: Wir sind in der Lage, solche Sabotageaktionen durchzuführen”.

Einer anderen Urheberschaft der Sabotage, etwa durch die USA, wird nicht nur von Peters wenig Plausibilität eingeräumt. Dabei lohnt durchaus eine unvoreingenommene Analyse nach dem Prinzip des Cui bono?, also danach, wer einen möglichen Nutzen aus den Zerstörungen ziehen kann. Sikorski hatte einst als Verteidigungsminister Polens (2005–2007) Nordstream I massiv bekämpft und das deutsch-russische Projekt als neuen „Ribbentrop-Molotow-Pakt“ bezeichnet. In seinen nun gelöschten Tweets verwies er darauf, dass Polen, die Ukraine und die baltischen Staaten seit 20 Jahren gegen den Bau von Nord Stream II gewesen seien. Die Zerstörungen stärkten daher die Position Polens, der Ukraine und auch der Türkei, durch die Gaspipelines nach Westeuropa führen.

Es ist eine ungeheure Chance (für Europa; Anm.), die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beenden und damit Wladimir Putin die Nutzung von Energie als Waffe und als Mittel zur Weiterentwicklung seiner imperialen Pläne zu nehmen. Das ist sehr bedeutsam und bietet enorme strategische Chancen für die kommenden Jahre.

Antony Blinken, US-Außenminister

Sikorski wies darauf hin, dass die Beschädigung der Pipelines den Handlungsspielraum Putins einschränke. „Wenn er die Gaslieferungen nach Europa wieder aufnehmen will, muss er über die Länder gehen, die die Gaspipelines Druschba (Freundschaft) und Jamal kontrollieren“ – also die Ukraine und Polen.

Neben diesen beiden Staaten ziehen auch die USA einen möglichen Nutzen aus den womöglich dauerhaft unterbrochenen oder zumindest eingeschränkten Liefermöglichkeiten durch die NS-Pipelines. US-Außenminister Anthony Blinken sagte zwar noch am 27. September, die defekten NS-Pipelines lägen „in niemandes Interesse“. Drei Tage später indes sagte Blinken zu den Folgen der Zerstörungen: „Es ist eine ungeheure Chance (für Europa; Anm.), die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beenden und damit Wladimir Putin die Nutzung von Energie als Waffe und als Mittel zur Weiterentwicklung seiner imperialen Pläne zu nehmen. Das ist sehr bedeutsam und bietet enorme strategische Chancen für die kommenden Jahre.“

Damit sagt Blinken mehr, als viele Kommentatoren in Europa zu denken wagen: dass die USA ein „enormes“ ökonomisches und dadurch auch geopolitisches Interesse haben, Russland „ein für alle Mal“ als Energielieferanten Europas zu schwächen – auch wenn EU-Staaten dafür die Rechnung zahlen. Die Folgen dieser Entwicklung sieht etwa auch Michael Thumann. Der außenpolitische Korrespondent der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit" zeichnet ein aus der Perspektive Deutschlands negatives Szenario dessen, was Blinken als „ungeheure Chance“ sieht.

Thumann, der nicht an eine US-, sondern eher an eine russische Urheberschaft der NS-Anschläge glaubt, schrieb am 30. September Folgendes: Energieintensive deutsche Unternehmen müssten nun teures LNG-Gas aus den USA beziehen. Dies würde sie künftig dazu bewegen können, „ihre Produkte mit billigerem Gas gleich dort herzustellen“, nämlich in den USA. Denn ohne Transport sei das Gas in den USA deutlich billiger.

Trotz dieses Umstands glaubt Thumann nicht, dass die USA ein Interesse gehabt haben könnten, NS zu zerstören. Die USA seien zwar stets gegen die Pipelines gewesen, doch Putin habe die Lieferungen im Zuge des Krieges beendet: „Die russischen Direktlieferungen nach Deutschland waren also gestoppt.“ Für die USA „gab es keinen Grund, die Rohre zu zerstören“. Das Fazit Thumanns: „Eigentlich nützt die mutmaßliche Sabotage in der Ostsee niemandem. Vielleicht Wladimir Putin, denn er will Angst verbreiten – doch es ruiniert seine Energieindustrie.“

Viele Indizien weisen in Richtung Moskau

Es lohnt sich indes, die derzeit in westlichen Medien dominierende, zeitlich und geopolitisch aber enge Argumentationslinie zu erweitern. Eine mögliche Groß-Perspektive liefert etwa der US-Geostratege George Friedman. Der 73-Jährige ist kein Verschwörungstheoretiker und kein US-Kritiker, sondern konservativer Bestsellerautor von Büchern zu politischen Zukunftsfragen sowie Inhaber der einflussreichen US-Beraterfirma „Geopolitical Futures“.

Schon 2015 sagte Friedman in einem Vortrag vor dem US-Think-Tank „Chicago Council on Foreign Affairs“: „Das Hauptinteresse der USA, für das wir im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie im Kalten Krieg gekämpft haben, ist die Beziehung zwischen Deutschland und Russland. Vereint wären sie die einzige Macht, die uns [die USA] bedrohen könnte. Und es ist in unserem Interesse, dass dies nicht geschieht. […] Für die USA ist es die Ur-Angst, dass deutsches Kapital und Technologie mit russischen Rohstoffen verschmelzen […].“ Solche Analysen sind freilich mitnichten ein Hinweis auf die Täterschaft an den Ostsee-Pipelines. Denn bereits die Tatsache, dass nach jetzigem Stand eine der beiden Röhren der NS-II-Pipeline brauchbar sei, weist eher in Richtung Moskau.

Wie der Journalist Sebastian Puschner im deutschen Wochenmagazin "Freitag" treffend schreibt, gäbe es in den heutigen Kriegszeiten auf Fragen wie jene nach den NS-Sabotagen vorerst „nur eine Antwort: Wir müssen uns an Unsicherheiten gewöhnen“.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung