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Pluralismus ohne Toleranz

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Seit Chruschtschows Sturz zeigt die sowjetische Führung Anzeichen einer demokratischen Schwäche. Nicht die Absicht, das Volk zu befragen, was nun eigentlich geschehen solle, sondern die offene Koexistenz verschiedenartiger Tendenzen und Kräfte.

Sie bekennt sich einerseits in Wort und Tat zur Fortsetzung und Ausweitung der wirtschaftlichen Liberalisierung und unterstützt die weitere Entwicklung der Konsumgüterindustrie, anderseits hat sie beträchtliehe Investitionsmittel an die Schwerindustrie abgezweigt. Die Generallinie ihrer Außenpolitik enthält sowohl das Bekenntnis zur friedlichen Koexistenz mit den kapitalistischen Staaten,' als auch das Versprechen, die national-revolutionären Befreiungsbewegungen in den Entwicklungsländern zu unterstützen, die ja in vielen Fällen die Bindungen der westlichen Staaten zu Afrika, Asien und Lateinamerika zerreißen. Die neue Sowjetführung fordert ebenso die Ankurbelung der landwirtschaftlichen Produktion, die auch durch die Ausnützung der privaten Hilfswirtschaften der Bauern unterstützt werden soll, als auch die Erhaltung der sowjetischen Verteidigungsmacht auf dem höchsten Stand.

Dieses Programm folgt offenbar den Gesetzen einer Logik, in der 100 Prozent aus 150 einzelnen Prozenten bestehen. Das ist ein Teilelement demokratischer Verhältnisse.

Ist es aber institutionell mit dem ewigen Pachtvertrag vereinbar, den die Kommunisten mit der Weltvernunft geschlossen haben, die ihnen die Zügel der Weltgeschichte in die Hand gibt und sie auf ein bestimmtes Ziel hinführt?

Die Rückfoeziehung auf die kanonischen Texte des Kommunismus hat so ihre Pferdefüße. Da Lenins Phantasie zum Beispiel die Atombombe nicht voraussah, wurde sein Konzept von der Weltrevolution und die These von er Unvermeidbarkeit des Krieges mit den imperialistischen Mächten, die in den roten Tempeln Pekings eifersüchtig gehütet wird, zur Kontroverse. Je nach Standort der kommunistischen Mächte wird der klassische Text buchstabengetreu vertreten oder frei

Die verpaßten Gelegenheiten interpretiert. Man muß Lenins Ver- mächtnis ziemlich strapazieren und weiche Stellen im logischen Zusammenhang seiner Thesen aufspüren, um sich auf ihn als Entdecker des Prinzips der friedlichen Koexistenz berufen zu können.

Kann sich der Kommunismus den Polyzentrismus leisten, den Togltatti zum Prinzip erhob und der den Sowjetführern heute im eigenen Lande und im Kreise der kommunistischen Staaten und Parteien der Welt so viele diffizile Aufgaben stellt? Der Monozentrismus scheint opportuner, das heißt eine Ordnung, in der ein Zentrum darüber befindet, was wahr ist und zu geschehen hat; selbstverständlich als Sprachrohr der gesamten notwendigen gesellschaftlichen Entwicklung. Nicht die theoretische Besinnung, sondern die Praxis hat gezeigt, daß dieselbe theoretische Voraussetzung, nämlich der Marxismus-Leninismus, die Funktionäre der kommunistischen Gesellschaften zu verschiedenen, ja vielfach konträren Schlüssen und Entscheidungen gelangen läßt, ja sie führt sogar zu einer kontroversen Differenzierung der Ideologie und des Dogmas, wenn Kommunisten in geographisch, ethnisch und geschichtlich verschieden orientierten Räumen an der Macht sind. Offensichtlich haben auch andere politische und geistige Mächte, die nicht unter der roten Fahne marschieren, ihren festen Griff an den Zügeln des Weltgeschehens.

Das bedeutet nicht nur eine Einschränkung der Universalität der kommunistischen Geschichtsauffassung, sondern auch ihre Auflösung. Wenn die Berufung auf die sankro-sankten Texte der Urheber des Kommunismus und des Gründers des Sowjetstaates, Lenin, aus so verschiedenen Richtungen erfolgt, wie es der sowjetisch-chinesische Konflikt zeigt, dann wird die Aufrechterhaltung der Einheit und Geschlossenheit immer blasser und die Gültigkeit der kommunistischen Urtexte formal. Jedem seinen Lenin, lautet dann die Devise.

So zeigt die gegenwärtige sowjetische Führung das Bestreben, alle in ihr vertretenen Strömungen und konkreten politischen Konzepte (Forcierung der Schwerindustrie und der Rüstung ebenso wie Ausweitung der Konsumgüterproduktion usw.) mit dem breiten Banner der leninistischen Generallinie der KPdSU zu umfassen.

Eine Analyse der früheren und Jüngsten Ereignisse beweist, daß auch in einem kommunistischen System keine Garantie dafür besteht, wie sich die Inhaber der Macht entscheiden werden; sie enthüllt, daß das Prinzip der Unvorherseh-barkeit, das freien Entscheidungen eigen ist, in den kommunistischen Staaten des europäischen Ostens sich offen in wachsendem Ausmaß als wirksam feststellen läßt und damit in die politische Struktur einzusickern beginnt. Die Entscheidung, wer über die ideologische Wahrheit von Maßnahmen zu befinden hat, scheint auf zunehmend breiterer Basis gefällt zu werden. Die Demontage der stalinschen Terrormaschdne, die zu Chruschtschows Verdiensten gerechnet werden darf, hat auch die Ventile der sowjetischen Parteimaschinerie weiter gestellt. Dafür spricht nicht nur das eingangs skizzierte, in allen Farben schillernde Programm der neuen Regierung, sondern auch die große Zahl der Sowjetbürger, die in verschiedener Weise daran beteiligt waren. So kann zum Beispiel die Einführung der weitreichenden Betriebsautonomie für je ein Drittel der Schuh-und der Kleiderindustrie als Ergebnis der Bemühungen der sogenannten liberalen Reformer gewertet werden. Die betreffenden Betriebe werden aus dem bisherigen Planungsapparat herausgelöst und werden selbständig nach den Prinzipien von Angebot und Nachfrage und der Rentabilität wirtschaften.

Diese Maßnahmen können in einer mehrjährigen Geschichte zurückverfolgt werden. Der Initiator des Konzepts einer Marktwirtschaft zwischen vergesellschafteten Betrieben, Professor Liberman, wurde ebenso wie andere Vertreter dieser Richtung (Trapesnikow, Belkin, Leontjew, Kronrod, Birman) mehrmals kritisiert. Ihre Thesen, die heute in die Praxis überführt werden, waren im Rahmen von offiziellen Pressepolemiken zur Diskussion gestellt worden. Seit dem Sommer 1964 wurden sie in zwei Fabriken praktisch erprobt und nun nach dem offensichtlich festgestellten Erfolg auf breiterer Basis realisiert.

Es wurde hiermit einer großen Anzahl sowjetischer Wirtschaftsführer und selbst dem breiten Konsumentenkreis, nämlich den Käufern der betreffenden Waren, ein Einfluß auf die Programmierung der Produktion in diesem Bereich der Konsumgüterindustrie eingeräumt. Sicher steht hinter diesen wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Druck, den der „Aufstand der Tatsachen zuungunsten der bisherigen Planwirtschaft ausübt. Breschnew berichtete von dem „Zurückbleiben der landwirtschaftlichen Produktion“ , der „mangelnden Qualität vieler Industrieerzeugnisse und auch darüber, daß „es mit der Versorgung und Bedienung der Bevölkerung nicht gut bestellt sei. Der ins Uferlose anschwellende Planungsapparat soll durch die erwähnten Direktverbindungen zwischen der Produktion und ihren Verbrauchern eingedämmt werden.“ Zwei“ markante“ Beispiele zur Beleuchtung der Lage: Am 12. Dezember 1964 veröffentlichte die „Iswestija eine Beschwerde sowjetischer Grubenarbeiter aus Kemerowa in Sibirien, die den Mangel an Arbeitskräften in der Produktion und die enorme Anzahl des Verwaltungspersonals kritisierten. Amerikanische Fachleute stellten aus sowjetischen Berichten fest, daß die Anträge der Uralmaschinenfabrik für Arbeitskräfte, Material und Ausrüstung für ein einziges Planjahr 17.000 engbedruckte Seiten umfassen. Das kommt von der kurzfristigen zentralen Mengenplanung und im besonderen von dem Umstand, daß in der sowjetischen Wirtschaftsorganisation bisher zwischen Fabriken keine langfristigen Verträge geschlossen werden konnten, auch wenn sie einander tatsächlich durch viele Jahre hindurch belieferten.

Die Wirtschaftsreform wird unbestreitbar durch das Gewicht neutraler sachlicher Notwendigkeiten gefördert. Sie erhält staatspolitische Bedeutung, weil der wirtschaftliche Erfolg als ein Hauptbeweis für die

Wissensohaftlichkeit und absolute Richtigkeit des Kommunismus angeführt wird. Sie vergrößert die Anzahl und das Gewicht der Kräfte, die an der Formulierung von Entscheidungen beteiligt sind. Das Sektorenspiel der sowjetischen Innenpolitik ist komplexer geworden. Der Pluralismus ist nicht mit jenem Blitz, der Chruschtschow von der politischen Bühne hinwegfegte, auf die friedliche sowjetische Erde herabgefallen, sondern langsam herangereift. Zu den maßgebenden und mitbestimmenden Kreisen gehören heute nicht nur die Apparatschiks der Partei, sondern auch Wirtschaftsführer und Wissenschaftler. Sie sind nicht nur bloße Befehlsempfänger. Man darf diesen Leuten ihr kommunistisches Credo eher glauben, als so manchen Opportunisten, die eine Parteikarriere anstreben. Oppositionelle Kräfte könnten gewiß keine Aufsätze in der „Prawda“ , der „Istwestija“ , der „Ekonomitscheskaja Gaseta oder etwa gar im „Kommunist veröffentlichen.

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