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Polen heute

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„Sie werden sehen, es wird nicht lange dauern, bis ,man‘ mich zwingt, es zu entfernen“, sagte mit Entrüstung eine polnische Lehrerin zu uns und wies dabei auf das an einer Wand ihres Klassenzimmers hängende Kruzifix.

„Man“ bedeutet: das Regime. Und „man" wird sich hüten, etwas Derartiges anzuordnen! Überall in Polen hängen Kruzifixe an den Wänden des Schulzimmers, und der Katechismus gehört zum Lehrplan. Es gibt in dieser sozialistischen Republik so gut wie keine laizistischen Schulen.

In den 6000 Gemeinden Polens sind

15.000 vom Staat besoldete Priester im Amt. Daneben subventioniert der Staat die katholische Universität Lublin und die Warschauer Hochschule für Theologie und unterstützt die vierzig Seminarien (die Seminaristen sind vom Militärdienst befreit) und die 3000 Klöster des Landes nach besten Kräften.

Am Sonntag strömen die Gläubigen aus der Kirche. Man trägt in diesem Land seine Religion zur Schau, kann nur auf einem harten Boden kniend gut beten. Und am besten auf dem Trottoir.

Wer einmal die Wallfahrt nach Czen- stochowa gesehen und gehört hat — die Gläubigen, die, in Achterreihen nebeneinander gehend, die alte polnische Hymne „Wir wollen Gott“ singen und vierzehn Tage lang den Verkehr auf den polnischen Straßen zum Stillstand bringen —, wird im Zusammenhang mit Polen nie mehr Von der „Kirche des Schweigens“ sprechen.

Der leidenschaftliche, rückständige und doch alle Hindernisse überwindende einmalige Katholizismus nach polnischer Art wird nur durch die Tatsache verständlich, daß die Religion in all den grausamen Wechselfällen der polnischen Geschichte das einzige nationale Bindeglied war. Kardinal Wyszynski läßt heute als guter Patriot in allen Kirchen für die Oder-Neiße-Grenze beten. Doch er donnert von der Kanzel herunter gegen die Antibabypille.

Man hat oft den Eindruck, nichts kümmere diesen so typisch polnischen Kardinal, dessen Eigenwilligkeit ausgeprägter ist als Milde und Demut, weniger als der Vatikan und der Staat. Zweifellos ist er eine große Gestalt, ein großer Patriot. Doch hat eine Gesellschaft auf dem Weg zur modernen Zeit Verwendung für einen Kirchenfürsten, der selbst in Spanien als Fanatiker angesehen würde?

Wladislaw Gomulka, der augenblickliche Nachfolger der Piastenund der berühmten Jagellonen an der

Spitze Polens, ist ein unscheinbarer Mann und entspricht im Gegensatz zu Wyszynski der herkömmlichen Vorstellung vom Polen nicht im geringsten. Er gewann den Respekt seines Volkes — und sogar eine Popularität, die er nie gesucht hat —, als er 1956 den gegen Warschau vorrückenden sowjetischen Tanks trotzte und damit den unglücklichen Ungarn den Mut gab, seinem Beispiel zu folgen. Jener „Oktoberfrüh- liimg“ hat die völlige Entstalinisie- rumg Polens eingeleitet Das Resultat ist ein polnischer Kommunismus, der genauso seltsam, so einzigartig ist wie die Wahlmonarchie von einst. Der „polnische Weg zum Sozialismus“ — so lautet die offizielle Bezeichnung — ist ein von Christusbildem gesäumter Weg und bedeutet den vollständigen Verzicht auf Kollektivisierung der Landwirtschaft. Der polnische Sozialismus läßt darüber hinaus ein erstaunliches Maß an Redefreiheit zu, erlaubt immer mehr Polen, ins Ausland zu reisen, ,und gestattet sogar die Auswanderung nach den Vereinigten Staaten. Im Parlament gibt es neben der kommunistischen auch eine Bauernpartei, eine demokratische Partei, eine katholische Gruppe und sogar eine Partei der Parteilosen. Sechzehn katholische Zeitungen, darunter eine Tageszeitung, werden vom Staat unterstützt.

Man bezeichnet dieses so typisch polnische System in Warschau als „Kommunismus ohne Tränen". Es läßt sich jedoch leicht ausrechnen, daß die mit so zahlreichen Sicherheitsventilen versehene kommunistische Maschine nicht mehr allzuviel Druck besitzt.

Eine Umfrage an der Universität Warschau hat ergeben, daß sich nach zwanzig Jahren Sozialismus nur ein Prozent der Studenten als Marxisten betrachtet...

Jenseits aller dieser Probleme gibt es immerhin zwei — und nur zwei — Dinge, über die sich alle Polen einig sein sollten. Sie scheinen sich dies jedoch nicht eingestehen zu können und auch nicht imstande zu sein, sich wirklich darüber zu freuen...

Wir denken an die heutigen Grenzen Polens und an seine Regierung. Beide sind nach der Niederlage der Nazis, als das Land im Westen mit einem Schlag zweihundert Kilometer gewann, mit derselben Heftigkeit von rechts nach links gerutscht.

Das von so viel Leid gezeichnete Land, das überfallen, zerfetzt, beraubt, zugrunde gerichtet, viermal aufgeteilt worden war und nach dem letzten Krieg, dem sechs Millionen Polen zum Opfer fielen, für alle

Zeiten verwüstet schien, dieses Polen, das die schlimmsten aller Vernichtungslager kannte (von 3,500.000 Juden überlebten nur 60.000), sah sich nach der Befreiung zwar geschwächt durch seinen ungeheuren Blutverlust, aber wie durch ein Wunder zum erstenmal in seiner Geschichte mit vernünftigen natürlichen Grenzen und einer stabilen Regierung gesegnet. Mehr noch:

geeinigt, einheitlich, ohne ethnische Probleme, ohne unruhige Minderheiten.

Die Regierungsform wurde ihm jedoch selbstverständlich durch seine geographische Lage auf gedrängt.

Man sagt in Warschau: „Wir sind zwischen der Sowjetunion und Deutschland ans Kreuz geschlagen wie Christus zwischen den beiden Räubern.“

Welcher von den beiden Räubern der „gute“ ist, steht für den Polen außer Zweifel. Welches auch immer seine Haltung dem Kommunismus gegenüber sein möge, in seinen Augen kann höchstens ein toter Deutscher „gut“ sein.

Als wir Polen vor sechs Jahren entdeckten, waren wir begeistert Begeistert über dieses Volk, das sich in seinen Ruinen amüsierte, und über die Handküsse der marxistischen Walzertänzer. (Der galante Pole küßt jede weibliche Hand in Reichweite, auch die des Postfräuleins, von dem er eine Briefmarke kauft. Er behauptet: „Es gibt in Polen keine Frauen. Es gibt nur Damen.“) Wir waren begeistert über die bezaubernden, pariserisch frisierten und beinahe modisch gekleideten Frauen, über die der Kirche durch den Stą t zugestandene Freiheit, über das avantgardistische Theater, über die sich in den an Saint-Germain-des- Prės erinnernden Kellern wie zum Beispiel dem Largactyl endlos hinziehenden studentischen Diskussionen über Literatur und Politik. Die polnische Fröhlichkeit hob sich ausgesprochen angenehm vom Grau in Grau der übrigen sozialistischen Länder ab.

Sechs Jahre später finden wir Warschau unverändert wieder. Und gerade das ist die Tragödie. Denn die Welt rund um Polen hat sich in der Zwischenzeit in einem erstaunlichen Maße entwickelt. Heute ist es, seiner Leichtlebigkeit zum Trotz, Warschau, das im Vergleich mit Berlin, Budapest und selbstverständlich Belgrad, aber auch Prag grau und erstarrt wirkt.

In unserer Zeit des Überflusses scheint in Polen die Standardantwort noch immer und überall zu sein: „Ne ma“, „Das haben wir nicht.“ Sie wird von Leuten gegeben, die ihren Beruf schlecht und ungern ausüben. Es ist kein Zufall, wenn Eva Foumier in ihrem Reiseführer über Polen unter den brauchbarsten Sätzen der Umgangssprache den folgenden Satz zitiert: „Wenn ich meinen Kaffee in fünf Minuten noch nicht bekommen habe, stecke ich das Hotel in Brand..

Sagen wir es bei dieser Gelegenheit rasch, damit wir nicht mehr darauf zurückkommen müssen: die polnischen Reiseprospekte gehören ins Gebiet der Science Fiction.

Das eigentliche Leben beschränkt sich in Warschau weiterhin auf die Cafes. Man trinkt, man tanzt Man amüsiert sich etwas zu ostentativ. Man diskutiert. Und mit welcher Leidenschaft! Doch wie wir ein Auto mieten, um aufs Land zu fahren, hinter diese städtische Fassade zu sehen, suchen wir zwei Tage lang vergeblich nach einem Bauern, der auf dem Felde arbeiten oder auch nur nach einer von diesen Bäuerinnen mit den runden Gesichtem, die ein wenig in ihrem Salatbeet hak- ken würde.

„Es stimmt schon“, sagte ein eben von einer Reise nach Frankreich zurückgekehrter Pole besorgt. „Es stimmt schon, ihr Lebensniveau ist viel höher als das unsere. Aber stellt euch vor, diese Leute arbeiten bis zu acht Stunden im Tag...“

Die Geschichte hat klar bewiesen,

daß der Pole heldenmütig sein kann. Das bedeutet jedoch nicht unbedingt, daß er auch tapfer ist...

Das Unbegreifliche an diesem Polen, das sich heute eifrig im Jerk versucht, dessen Liebe jedoch im Grunde noch immer dem langsamen Walzer gehört, ist die Tatsache, daß die Privatinitiative, nachdem der Staat den letzten Ausweg darin gesucht hat, ihr immer mehr Spielraum zu gewähren, von ihrer Freiheit schließlich so wenig Gebrauch gemacht hat.

Dieses Land der Trugbilder, der ihre Kunststücke vor dem eigenen Spiegel ausführenden Gaukler, dieses Land, das sich noch immer an die längst überholte Berufung, die berühmte Brücke zwischen Osten und Westen zu sein, klammert — als ob New York und Moskau für ihre Streite und Versöhnungen noch Vermittler brauchten! Dieses Land auch, das in die unsinnigen Formen eines aus einem anderen Zeitalter stammenden Katholizismus verstrickt ist, das nicht weiß, was es will, es aber sofort will, das nicht imstande ist, seine Probleme zu lösen, da es sie nicht zu stellen vermag, das inmitten eines Europa, in dem von der Ostsee bis zum Adriatischen Meer mit einemmal jedermann den Laufschritt eingeschlagen hat, an Ort tritt, dieses Polen ist im Begriif, auf die ihm eigene fröhliche Art ein zurückgebliebenes Land zu werden ...

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