polen belarus - © Jan Opielka

Polen-Pushbacks: Werte, die nicht gelebt werden

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Die EU scheint die Augen vor der Pushback-Praxis Polens zu verschließen.Oder ist diese gar in ihrem Sinne? Ein Lokalaugenschein aus dem Grenzgebiet.

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Die EU scheint die Augen vor der Pushback-Praxis Polens zu verschließen.Oder ist diese gar in ihrem Sinne? Ein Lokalaugenschein aus dem Grenzgebiet.

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Zu Beginn dieser Woche sind erstmals seit August, als die ersten Flüchtlinge an der polnisch-belarussischen Grenze aufgetaucht waren, Mi­grant(inn)en in großen Gruppen hierhergekommen. Polnische Behörden berichten von 3000 bis 4000 Personen nahe Kuźnica im Nordosten Polens. Am Dienstagabend ist es nun einigen Dutzend Menschen gelungen, über die Grenze zu gelangen, sie wurden gefasst und zurückgedrängt. Laut polnischen Medien sollen belarussische Beamte die Flüchtlinge mit Luftschüssen eingeschüchtert haben. Polens Regierung und Präsident Andrzej Duda hielten indessen eine Krisensitzung ab, doch die Hilfe der EU-Grenzagentur Frontex oder der NATO – welche Oppositionsparteien und eine Mehrheit der Polen fordern – brauche man derzeit nicht, so Duda. Mehr als 20.000 polnische Soldaten, Grenzbeamte und Polizist(inn)en seien vor Ort. „Das ist unsere Verantwortung gegenüber unseren Bürgern und gegenüber anderen EU-Mitgliedstaaten“, sagte der Präsident .

In dem seit September vom Ausnahmezustand erfassten Gebiet, einer drei Kilometer breiten Zone entlang der gut 400 Kilometer langen Grenze, dürfen sich weder Journalist(inn)en noch Hilfsorganisationen aufhalten. Seit August gab es unter den Flüchtenden offiziell neun Tote. Polnische Aktivist(inn)en und Lokalpolitiker gehen freilich von einer wesentlich höheren Zahl aus – und im nahenden Winter dürfte sie noch steigen.

„Lotterie“ an der Grenze

Sangar* hat überlebt. Der 26-jährige Mann liegt am 1. November erschöpft auf dem Boden auf der polnischen Seite eines großen Waldes, fünf Kilometer entfernt vom Grenzdreieck zwischen Polen, Litauen und Belarus. Helferinnen der Warschauer Stiftung „Ocalenie“ (dt.: Rettung) versorgen den aus dem Nord-Irak stammenden Kurden mit Isomatte und Schlafsack, trockener und warmer Kleidung, Nahrung und warmem Tee. Unter den Flüchtenden werden Kontaktnummern von „Ocalenie“ und anderen Organisationen weitergereicht, so hat auch Sangar die Aktivist(inn)en kontaktiert. Ein Team ehrenamtlicher Ärzte stößt dazu, der Mann ist stark unterkühlt. Mit den Helferinnen verständigt Sangar sich via einen per Telefon zugeschalteten Übersetzer. Er hat die „Ocalenie“-Helferin Marta Szymanderska-Pastryk als Rechtsbeistand bestimmt und will in Polen einen Antrag auf internationalen Schutz stellen – daher haben die Helferinnen den Grenzschutz gerufen.

Die zwei Grenzbeamten, die anrücken, verhalten sich ordnungsgemäß, womöglich auch angesichts mehrerer auf sie gerichteter Kameras. Doch auch die Anwesenheit mehrerer Journalist(inn)en und Fotografen, sagt „Ocalenie“-Mitarbeiterin Karolina Szymańska, garantiere keineswegs, dass Sangars Antrag rechtmäßig bearbeitet werde. Er könnte, wie schon viele Tausende Flüchtlinge zuvor, schnell und ohne die ihm zustehende Asylprüfung abgeschoben werden – die berüchtigte Pushback-­Praxis.

„Bislang liegt es meist an den Grenzbeamten, was mit den aufgegriffenen Flüchtlingen geschieht. Trotz der Erklärung der Flüchtlinge, dass sie in Polen bleiben und internationalen Schutz gemäß EU-Recht beantragen wollen, werden viele umgehend außer Landes gebracht. Es ist jedes Mal eine Art Lotterie, was passieren wird“, erklärt Szymańska.

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