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Problematisches Vetorecht

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Aber davon abgesehen, welche Auswirkungen würde die Verwirklichung dieses Zweikammerprojekts haben?

Hinter Wahlens Reformplan steckt die leise und nicht ganz unbegründete Angst scharfsichtiger Demokraten, daß der englische Oppositionstyp einer die Regierung kontrollierenden Alternativregierung nicht überall realisierbar sei, weil zum Beispiel in Österreich das Verhältniswahlrecht und der Propagandavorteil der Regierung eine Änderung der Mandatsverteilung erschwere, so daß die Opposition vielleicht lange auf die Übernahme der Regierun.es-verantwortung warten müsse, es daher ratsamer für sie sei, sich nicht auf den eher ungewissen Wechsel der Herrschaft in der Zukunft zu verlassen, sondern lieber die eher handfeste Teilnahme an der Herrschaft in der Gegenwart anzustreben. Durch eine Oppositionskammer könnte diese Herrsehaftsbetelligung der Opposition gesichert werden. Denn es stimmt einfach nicht, hier nur von Kontrolle ziu reden, wie Wahlen es tut, mit ihrem Gesetzesinitiativrecht In der Zweiten Kammer wäre die Opposition im Kernbereich der Rechtserzeugung tätig. Die Opposition soll durch ausschließliches Tätigwerden in einem eigenen Staatsorgan gestärkt werden, weil zu befürchten sei, daß sie sonst durch das Mehrheitsprinzip in den Winkel politischer Bedeutungslosigkeit gedrängt würde. .

Kelsen hat in seiner kleinen Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ nachgewiesen, daß diese Scheu vor dem Mehrheitsprinzip im Parlament unbegründet ist, da der nach dem Majoritätsprinzip gebildete Gemeinschaftswille in aller Regel (wie zum Beispiel jüngst bei der Reorganisation der verstaatlichten Industrie) gar kein „Diktat der Majorität gegen die Minorität, sondern ... Ergebnis der gegenseitigen Beeinflussung beider Gruppen, ... Resultante ihrer aufeinanderstoßenden politischen Willensrichtungen“, eben Kompromiß ist. Die Regierungspartei muß auf gegenseitige Fühlungnahme und Beschwichtigung der Opposition bedacht sein, um nicht allmählich die öffentliche Meinung gegen sich aufzubringen. Die Mehrheit muß durch Kompromißbereitschaft Ihre Verträglichkeit beweisen, um so die Erträglichkeit ihrer Mehrheitsentscheidungen und damit den Frieden des Gemeinwesens zu gewährleisten. In letzter Konsequenz läuft Wahlens Idee einer Oppositionskammer auf eine an das ständische Paritätsdenken der vorkonstitutionellen Zeit gemahnende Ersetzung des Mehrheitsgrundsatzes durch das Einstimmigkeitsprinzip hinaus, wodurch jede Fortbildung und Abänderung der Rechtsordnung von einer verschwindend kleinen Minderheit bei der Verfassungsgesetzgebung blockiert und bei der einfachen Gesetzgebung zumindest erschwert werden kann, weil diese Minorität in einem eigenen Staatsorgan ohne Rücksicht auf ihre Größe über ein absolutes beziehungsweise suspensives Veto verfügt.

Ein auf Grund der gegenwärtigen Mandatsverteilung im Nationalrat erstelltes Modell soll dies verdeutlichen: Im Fall einer neuerlichen Koalition von ÖVP und SPÖ verbliebe die FPÖ allein in der Oppositionskammer, wo ihr umfangreiche Initiativ- und Vetobefugnisse zustünden; sie könnte die Abschaffung der Oppositionskammer verhindern; eine Verfassungsänderung gegen den Willen von sechs (!) Abgeordneten wäre nicht auf dem von der Verfassung vorgeschriebenen Weg, sondern nur durch Verfassungsbruch, also revolutionär möglich! Ja, selbst einer Opposition, die nur aus einem einzigen Abgeordneten besteht, wäre die Kompetenzfülle einer ganzen Parlamentskammer sicher!

Wahlens Projekt läuft auf eine verfassungsrechtliche Perpetuierung des politischen Zustands der vergangenen Koalition hinaus, ist aber derart gestaltet, daß die Koalitionsperiode mit ihren Nachteilen, aber ohne ihre Vorteile fortgesetzt würde. Die Koalition in ihrer schwachen Endphase und Wahlens Parlamentarismus mit seiner Tendenz zum Einstimmigkeitsprinzip haben den Nachteil einer durch Entscheidungsschwierigkeiten gekennzeichneten geringen Leistungskapazität, worunter die Fähigkeit zur Lösung von Sachaufgaben zu verstehen ist, gemeinsam. Aber Wahlens Zweikammerprojekt fehlt, was selbst die Koalition der sechziger Jahre auszeichnete, nämlich die große Integrationskapazität, das heißt, die Fähigkeit, die politische Einheit eines Staates zu garantieren, die ja so stark war, daß 1966 der Übergang zu einer Mehrheitsregierung ohne Friktionen erfolgte. Gerade wenn man kein Einheitsmystiker ist, der von der natürlichen politischen Geschlossenheit des Volkes träumt, muß man nach sozialtechnischen Instrumenten Ausschau halten, die diese Integrationskapazität erhöhen. Ein solches Mittel bietet sich jedenfalls im Parlament an, dessen spezifisches Verfahren — das Sich-Aug-in-Aug-Gegenübersitzen, das tägliche Mit-einander-Reden, das gemeinsame Arbeiten in einem Haus — Koannro-misse ermöglicht. Und jetzt sollen Mehrheit und Minderheit auf einmal getrennt werden — in einem System, das durch gleichermaßen geringe Leistungs- und Integrationskapazität charakterisiert wäre! An Stelle der in den Ausschüssen immer noch vorgenommenen Diskussion gäbe es nur die starre Konfrontation politischer Vorstellungen in zwei Kammern, die politischen Lager stünden sich in Burgen gegenüber wie die großen Geschlechter in den italienischen Stadtstaaten des ausgehenden Mittelalters oder in der Zwischenkriegszeit die „Bürgerlichen“ im Bund und die „Roten“ in Wien. Da ein Zerreißen des Staates zu befürchten, hat leider nichts mit politischer Schwarzseherei zu tun.

Aber selbst wenn es nicht so weit kommen sollte, wäre die gerade von Wahlen erstrebte Staatswillensbildung auf Grund von Kompromissen, also unter Mitwirkung der Opposition, überaus erschwert. „Majorität und Minorität müssen sich miteinander verständigen können, wenn sie sich miteinander vertragen sollen“ (Kelsen). Diese Verständigung müßte zwischen der Regierungs- und der Oppositionskammer — wie zwischen den Parlamenten Österreichs und Ungarns nach dem Ausgleich von 1867 — mühselig mittels „Delegationen“ erfblg?;i oder die Kompromißvorbereitung würde überhaupt und nicht nur wie bisher weitgehend auf wirtschaftspolitischem Gebiet in außerparlamentarische Komtaktgremien und Institutionen verlegt werden.

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