6541856-1946_45_03.jpg
Digital In Arbeit

Probleme der Umsiedlung

Werbung
Werbung
Werbung

Die Umsiedlung von nahezu 15 Millionen Menschen aus den ostdeutschen Gebieten in das nach den kommenden Friedensverträgen verbleibende Restreich bildet eines der gewaltigsten Probleme, die der heutigen und den kommenden Generationen zur Lösung auferlegt sind. Gelingt es nicht, dieses Problem zu meistern, steht Deutschland vor der Gefahr einer Überschwemmung durch das eigene Volkstum, die sich in erneuter Ballung von Menschenmassen, in weitgehender Proletarisierung und in der Entwurzelung bedeutender Schichten für ganz Europa folgenschwer auswirken kann. Im Schatten sich überstürzender Entwicklungen haben sich denn auch insbesondere in den süddeutschen Ländern zahlreiche Stellen theoretisch und praktisch mit der ganzen Fülle der hiemit aufgeworfenen Fragen beschäftigt und Gesichtspunkte entwickelt, die nun die positive Aufgabe und die vernünftigen Möglichkeiten künftiger Gestaltung herausstellen sollen.

Welche Folgen wird die Umsiedlung nun für das kommende Wirtschaftsleben Deutschlands haben?

Zunächst ist sie eine der Krisengründe, die sich aus dem Zusammenbruch ergaben und deren Überwindung eine Fülle von Schwierigkeiten birgt. Als Umgliederung noch nie gekannten Ausmaßes wird sie vor allem ein Änderung des gesamtdeutschen Wirtschaftskörpers hervorrufen. Die grundlegenden Relationen (Bevölkerungszahl: Ernäh-. rungsdichte, Industrie: Landwirtschaft, Veredelung: Rohstoffgrundlage, Geldmenge: Kaufkraft, Gebrauchsgüter: Kapitalgüter) werden sich wesentlich verschieben und zusammen mit der dadurch hervorgerufenen verstärkten Abhängigkeit von dem Gefüge der Weltwirtschaft vollkommen neue wirtschaftliche Maßstäbe setzen.

Die Masse der Flüchtlinge lebt — vorerst wirtschaftlich gesehen — zum großen Teil berufsfremd über das Land verstreut und ist keineswegs produktiv tätig. Die Flüchtlingstransporte aus der Tschechoslowakei und Polen brachten in den besten Fällen nur 20 Prozent arbeitsfähige Männer über die Grenze. Die übrigen Zu-wanderer fallen der Fürsorge anheim. Das Malthussche Bevölkerungsgesetz scheint sich in drohendem Ausmaße zu bestätigen. Stiege die Bevölkerungszahl in vielen Städten und Kreisen um 100 Prozent (so zum Beispiel in Schleswig-Holstein), dann wäre die geometrische Progression der Vermehrung, die Mal-thus in einem Zeitraum von 25 Jahren gegeben sah, „über Nacht“ eingetreten und die arithmetische Progression der Ernährungsbasis vermöchte ihr vollends bei dem Rückgang landwirtschaftlicher Erzeugungskraft nicht im geringsten ein Äquivalent entgegenzusetzen. In der Tat werden zum Beispiel die Bevölkerungsdichte Bayerns von 99,5 auf 141, die Ernährungsdichte von 138 auf 179 steigen. Die Kleinstadt von nahezu 10.000 Menschen, die in den letzten Monaten täglich über die Grenze kam, hat in den süddeutschen Ländern bereits eine 3 7 p r o z e n-tige Überbelegung des Wohnraumes hervorgerufen und brachte dabei vorerst kaum drei Viertel des auf 1,700.000 Menschen bestimmten Aufnahmesolls aus der Tschechoslowakei in die amerikanische Zone. Die Ausgesiedelten kommen ohne Geld, ohne Möbel und Ausstattung, ohne Kleidung, ohne Maschinen und Handwerkszeug ins Land. Das einzige, was sie besitzen, ist ihr fachliches Können. Doch da ist nicht wenig, sondern überaus viel. Mag auch jeder neue Esser für die Gesamtheit eine Verarmung bedeuten, so ist dennoch auch in diesem Zusammenhange gegen Mal-thus zu sagen, daß erhöhter Bevölkerungsdruck auch ein Jungbrunnen schöpferischer Kräfte, eine Quelle wirtschaftlichen Fortschrittes zu sein vermag, wenn es gelingt, etwa die jahrhundertealte Gewerbe- und Wirtschaftstradition der Sudetenländer, die heute sozusagen in den Fingern der Ausgewiesenen schlummert, zu wecken und m das Wirtschaftsleben einzuschalten.

Gegenseitige Ergänzung geschlossen Wirtschaftskörper

Der Anblick der Flüchtlingstransporte gewährt zum guten Teil nur ein Oberflächenbild und gewinnt etwas hellere Züge, wenn man die großen soziologischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge ins Auge faßt, die hinter dem Flüchtlingsstrom sichtbar werden. Man sieht die Ausgewiesenen dann nicht mehr nur ab Individuen, sondern als Teile der organisierten Gesamtheit einer Volksgruppe, die als ganze umgesiedelt wird. Es handelt sich hiebei also nicht um den bloßen Transfer einer gestaltlosen Masse, sondern um die Vereinigung zweier geschlossener Wirtschaftskörper von ganz bestimmtem innerem Gefüge.

Dieses Gefüge muß, sollen nicht unerhörte Werte verlorengehen, durch die Umsiedlung hindurch erhalten bleiben. Jeder Evakuierte hatte in seinem bisherigen Leben ja eine bestimmte Funktion inne und nennt auch ein. dementsprechendes Wissen und Können sein eigen. Die Lhnsiedlung in geordnete Bahnen lenken, heißt demnach nichts anderes, als 1. den Wirrwarr der Flüchtlingsströme nach gesellschaftlichen Funktionskreisen ordnen und 2. die Evakuierung von vornherein nach dem Strukturbild des geschlossenen Leben-komnlexes der Deutschen kl den Heimat-und in den Aufnahmeländern zur Durchführung bringen.

Diese Betrachtung der Umsiedlungsfrage gestattete zukunftsweisende Blicke. Man sah große gefühlsmäßige Ergänzungsmöglichkeiten und konnte vorwegnehmend etwa eine soziologisdie und wirtschaftliche gegenseitige Ergänzung und Vervollkommnung zwischen dem Sudetengebiet und den süddeutschen Ländern als besonders günstig bezeichnen. Günstig auch im Hinblick auf die durch den' alliierten Wirtschaftsplan vorgeschriebene Änderung der deutschen Wirtschaftsstruktur.

45 Prozent aller Deutschen der böhmischen Kronländer waren in der Industrie beschäftigt. Sie waren im alten Österreich-Ungarn und um so mehr im neuen Tschecbenstaat die Hauptträger der gewerblichen Produktion und haben, auf alter, schon in den Merkantilzeiten gesell offener Tradition aufbauend, eine ganze Reihe bedeutsamer Spezialindu-strien geschaffen, um die sich heute viele europäische Länder bewerben. Würde man die Angehörigen dieser Industriezweige sich wahllos in alle Himmelsrichtungen zerstreuen lassen, gingen bedeutende Wirtschaftswerte verloren, stellen sie doch den größten Aktivposten, dar, der aus der Verlustmasse der Evakuierten gerettet werden kann. Die besondere Struktur der Sudetenindustrie läßt sie zudem für die Einordnung in ein industrielles Aufbauprogramm besonders geeignet erscheinen: sie ist arbeitsintensive, rohstoffsparende Veredlungsindustrie, sie stellt fast durchwegs Gebrauchsgüter her und sie war seit je in Mittel- und Kleinbetrieben und in der Heimindustrie verankert. Vor allem aber ist sie zu 80 Prozent exportbetont und hier wiederum auf einem Sektor, der auch nach dem neuen Plan des Alliierten Kontrollrates freigegeben ist. Dieser Plan sieht bekanntlich eine Gesamtausfuhr von drei Milliarden RM vor, die zum großen Teilt zur Bezahlung der auf zweieinhalb Milliarden RM berechneten deutschen Nahrungsmitteleinfuhr verwendet werden soll. Wenn es schwierig sein wird, mit der verbleibenden Produktion diese Ausfuhrquote zu erreichen — die Statistik des Jahres

1932 ließe unter den jetzigen Umstünden nur eine Ausfuhrziffer von 263,000.000 RM erwarten —, so ist es immerhin bedeutsam, daß nach eben dieser Statistik gerade jene Posten an der Spitze stehen, die, wie Textilwaren, Leder und Lederwaren, Spielzeuge und Musikinstrumente, Glaswaren usw., auch die führenden Ausfuhrgüter der Sudetenindustrie darstellten. (Insgesamt erbrachten die Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei 40 Prozent der 20-Milliarden-Kci-Ausfuhr, obwohl sie nur 23 Prozent der Bevölkerung ausmachten!)

Gablonz am Inn

Wie sieht nun die Praxis ekier Industrieumsiedlung aus, welche die Bewahrung der erwähnten Wirtschaftswerte anzustreben gedenkt? In Bayern, dessen Verfahren beispielgebend ist, haben Wirtschaftssachverständige der Flüchtlinge zusammen mit den Stellen der Landesplanung schon frühzeitig entsprechende Richtlinien in Vorschlag gebracht. Man fand, daß die Sudetendeutschen sehr viele Industrien mitbringen, über die das Aufnahmelan d bisher nicht verfügte:

Handschuherzeugung, Lederwarenverarbeitung, Strumpferzeugung, Strick- und Wirkereien, Hut- und Mützenindustrie, Teppichweberei, Wertglaserzeugung, Kunstblumen-fertigung usw. Man sah, daß die ansässige Erzeugung durch das Hinzukommen sudeten-ländischer Unternehmer eine weitgehende Ausweitung erfahren könne: so im keramischen Sektor (PorzelSanindustrie), im Kunstgewerbe, in der Möbelfertigung, im Kaolin-und Kohlenabbau.

Man lenkte die Neuansiedlung bewußt in Bezirke, die bisher über gleichartige Gewerbe nicht verfügten (Möbelindustrie in O b e r-b a y e r n), oder man fügte sie schon bestehenden Erzeugungszentren ein (Ansied-lung von Textilfachkräften in Augsburg und H o f). Man fand weiter, daß die auf Gemeinschaftsfertigung angelegte Art' bestimmter Erzeugungskreise die geschlossene Wiederansiedlung erheischt. (So, wenn man ursprünglich versuchte, im Gelände der ehemaligen Pulverfabrik Kraiburg ein „G a b-1 o n z am Inn“ zu schaffen, um in dieser neuartigen Städtegründung die gesamte Gab-lonzer Exportglasindustrie zu vereinigen.)

Dieser Strukturgedanke der Industrieumsiedlung, der sich selbstredend erst allmählich durchzusetzen beginnt, läßt folgende Grundsätze erkennen:

1. Sinngemäße Ergänzung der Inlandsproduktion durch Zuführung von Fachkräften aus den Reihen der Evakuierten.

2. Neugründung von Fertigungszweigen über die das Aufnahmeland bisher nicht verfügte.

3. Geschlossene Neuansiedlung in sich verwachsener Ferrigungszweige.

4. Orientierung nach Rohstoff- und Exportgegebenheiten.

5. Standortwahl auch nach den Grundsätzen gesunder wirtschaftlicher und soziologischer Dezentralisation. .

Es leuchtet ein, daß man mit diesen Maßnahmen eine weitgehende Abrundung der Produktionszweige erstrebt, wozu die Umsiedlung auch eine einmalige Chance bietet. Die Krisenfestigkeit des Wirtschaftskörpers, der nunmehr auch im Landeswirtschaftsbereich über nahezu alle Fertigungszweige verfügen wird, kann auf die Dauer nur eine ökononrsche Fruchtbarkeitssteigerung bewirken.

Flüchtfingspolitik und Siedlungswesen

Die so gekennzeichnete IndustrieumsieJ-lung und Berufsgruppenplanung wird tiefgreifende soziale Folgen haben und .die Spannungen, die sich aus dem unmittelbaren Nebeneinander von Alt- und Neubürgern erstehen, durch weitgehende Berücksichtigung der sozialen Frage mildem müssen. Sie stellt nichts anderes, als eine Arbeitsvermittlung im großen dar und versucht auch die vorerst so dringliche Unterbringung der Menschenmassen nach dem Grundsatz „Die Wohnung folgt dem Arbeitsplatz“ zu lenken. Wie immer, wenn es gilt, sozial geschwächte Schichten in ihrer Gesamtheit zu stützen, beginnt auch der Genossenschaftsgedanke allenthalben in Umsiedlerkreisen lebendig zu werden. Er bietet die Vorteile gemeinschaftlicher Maschinen- und Warenbeschaffung und schafft die für den kleinen Mann günstigsten Kreditmöglichkeiten. In erster Linie hat er sich zum Träger der großen Siedlungsbewegung gemacht, die ia Deutschland nunmehr das Ausmaß einer umfassenden Binnenkolonisation annehmen wird. Nach der Verabschiedung des Bodenreformgesetzes hat jetzt auch die amerikanische Zone die Voraussetzungen für eine Siedlung großen Stiles geschaffen. Diese soll nach den ausführlichen Plänen der „Volkswirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft für Bayern“ den Ausgewiesenen dreierlei geben: den Wohnraum, die zusätzliche Arbeitsstätte und eine Er-nährungsgruridlage. die aus dem Mehr der intensiven Landbebauung erwächst. 50.000 Hektar werden in B a y e r n zunächst zur Errichtung von Stadtrand-, Nebenerwerbs- und landwirtschaft'Wn Siedlungen zur Verfügung gestellt werden. Die englische Zone wird in ähnlichem Sinne verfahren. Di russische Zone hat das Landbeschaffungsproblem bereits in radikalem Sinne gelöst. Es liegt auf der Hand, daß man nur solcherweise, durch Seßhaftmachung und Wiederverwurzelung der Ausgewiesenen in Boden der neuen Heimat, che Proletarisierung und Deklassierung weiter Bevölkerungsschichten verhindern kann. Das Ziel oll nicht eine neue Menschen anhäuf ung und Vergroßstädrerung sein, sondern die Schaffung eines Großsiedlungs- und Wirtschaftsraumes, der um einen oder mehrere dichter geschlossene städtische Kerne herum wenige Großbetriebe, zahlreiche gewerbliche Klein-und Mittelbetriebe und menschenintensivere Land- und Gartenwirtschaften mischt. Die Umsiedlung soll dazu dienen, die neue Lebens- und Wirtschaftsstruktur Deutschlands, die im wesentlichen von landwirtschaftlichen und gewerblichen Intensivformen bestimmt sein wird, in geordneter Weise anzubahnen.

Der Vorgang ist von europäischer Bedeutung. Ob er gelingt und ohne jede ausländische Hilfe durchgeführt werden kann, wird die Entwicklung der nächsten Jahre zeigen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung