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Pulverfaß Kosovo vor Explosion?

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Belgrad regiert den Kosovo mit eiserner Hand: Die Albaner zittern um's Überleben. Eine neue Gewaltfront auf dem Balkan?

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Belgrad regiert den Kosovo mit eiserner Hand: Die Albaner zittern um's Überleben. Eine neue Gewaltfront auf dem Balkan?

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Ich will ins Ausland. Ich möchte in den USA studieren.” Überall die gleiche Antwort. Die jungen Albaner, die dichtgedrängt in einem „Privatgymnasium” Pristinas die Schulbank drücken, haben nur einen Wunsch: nach der Matura den Kosovo zu verlassen. Denn die Heimat ihrer Eltern bietet keine Perspektiven. „Wir sind ein Volk von Arbeitslosen”, sagt ihr politischer Führer Ibrahim Rugova. Und ein Volk ohne Staat, wie einst Milovan Dj ilas sagte. Die Serben regieren im Kosovo mit harter Hand.

Die Kosovo-Albaner haben längst zur Selbsthilfe gegriffen, um in der tristen wirtschaftlichen und sozialen Lage ein menschenwürdiges Dasein führen zu können. Bildungs- und Gesundheitswesen sind Grundpfeiler ihrer eigenständigen Existenz im Schatten der Belgrader Administration. Finanziert wird dieses albanische Selbsthilfenetz aus dem Ausland: zur Hälfte aus Mitteln der „Exil-Regierung”, zum anderen Teil von Geldern der in den USA und Mitteleuropa lebenden Landsleute. „20 Prozent von uns, etwa 400.000, leben im Ausland”, schätzt ein Mitarbeiter im Kosovo-Informationszentrum.

Die Zurückgebliebenen organisieren sich leidlich den Alltag, seit sie von neu angesiedelten Serben ins Eck gedrängt und zu lästigen Mitbewohnern degradiert worden sind. Die beiden Volksgruppen leben zwei verschiedene Leben.

Um die eigene Identität dem Druck der Serbifizierung zu entziehen, bauten die Albaner vor fünf Jahren ein selbständiges Unterrichtswe-sen auf. Vizedirektor Sahit Elshani führt uns durch eine dieser privaten Schulen. Ein Familienhaus am Stadtrand von PriStina, mit Blick auf das Amselfeld. In dem gratis zur Verfügung gestellten Haus unterrichten 97 Lehrer 1.230 Gymnasiasten. Im Lehrerzimmer, einst Wohnzimmer der Spender-Familie, hängt ein dichtbeschriebener Plan: unterrichtet wird in drei Schichten, in sechs zu Klassenzimmern umfunktionierten Räumen. Im Kosovo existieren heute 65 höhere Schulen und über 400 albanische Volksschulen, die von 350.000 jungen Albanern besucht werden. 90 Prozent der Schüler lernen Englisch. Ihre Zukunft sehen sie im Westen, nicht in Serbien, das ihre Diplome ohnehin nicht anerkennt.

Militarisierung und Serbifizierung gehen Hand in Hand, und sie begegnen einem im Kosovo in vielerlei Gestalt. In den Kleinstädten sticht die starke Präsenz paramilitärischer Gruppen ins Auge, die das Serbentum hochhalten. Gegen Ende des Bosnien-Kriegs plante Tschetnik-Führer Arkan die Verlegung seines Hauptquartiers in den Kosovo.

Belastete bereits vor dem Zerfall Jugoslawiens forcierter Serben-Zuzug das demographische Gefüge, so lieferte im Krieg ein gezielter Flüchtlingsstrom neue Munition. Im Kroatien-Krieg wurden etwa 40.000 Serben in den Kosovo gebracht, „gegen ihren Willen”, wie Rugova betont. Zuletzt kamen 12.000 Krajina-Serben. Sie füllen Hotels und Campingplätze, selbst in Prizren, der Wiege des albanischen Nationalismus.

In Prizren deuten cyrillische Aufschriften über Lokalen und Geschäften auf neue Besitzer hin, in Pec markieren mit Farbe überschmierte Ortstafeln über dem albanischen Namen Peje die Machtübernahme durch Bel-grad-Fetischisten. Schließlich befindet sich hier das alte serbisch-orthodoxe Patriarchen-Kloster aus der Zeit des Nemanjiden-Geschlechts. Friedvoll liegt das Gründerkloster da, eingebettet in die Berge am Band der -Zufall? - Bugova-Schlucht.

Überall das gleiche Bild der Verwahrlosung, in Pec, in Pristina, in Industriestädten wie Kosovska Mitrovi-ca. Unrat türmt sich im Stadtgebiet, die Straßen in den Wohnvierteln ähneln oft holprigen Feldwegen. Die meisten Industriebetriebe sind geschlossen, die soziale Krise eskaliert.

Die Albaner fühlen sich gedemütigt und provoziert. Ihr charismatischer Führer, Vorsitzender der Demokratischen Liga des Kosovo

(LDK), weiß nicht, wie lange er angesichts der wachsenden ethnischen Repression das Volk noch vor einem Gewaltausbruch bewahren kann. Zuletzt häuften sich Feuerüberfälle auf serbische Polizisten. Eine „Befreiungsarmee des Kosovo” bekannte sich in Tirana zu den Anschlägen. Bugova sieht nach der „Kriegsfront Bosnien” die „Gewaltfront Kosovo” heranrücken. Die Situation sei so explosiv, daß ein geringfügiger Anlaß ein Blutbad auslösen könnte.

Eine Spaltung der Kosovo-Albaner und ihrer Führung käme Belgrad gerade recht. Unlängst frohlockte die serbische Presse über angebliche Differenzen zwischen Ibrahim Bugova und Adem Demaci. Die zwei Albaner-Führer vertraten „unterschiedliche separatistische Optionen”. Einig seien sie sich nur in ihrer Wahlempfehlung für die regierende Demokratische Partei in Albanien gewesen. Denn ein Sieg der ex-kommunistischen Sozialisten hätte für den Kosovo eine „nationale Tragödie” - so die amtliche Tanjug - und ein Erwachen aus Unabhängigkeitsträumen bedeutet.

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