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Punktesieg für Labour

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Am Freitag, dem 16. Oktober, ist der vorläufige Schlußstrich unter die dreizehn Jahre lange Tory- Herrsohaft gezogen worden. Als in den Vormittagsstunden sich ein knapper Labourerfolg abzuzeichnen begann, zog der frühere konservative Premierminister daraus die Folgen: etwa um 15.30 Uhr begab er sich in Cutaway und Zylinder zum Buckingham-Palast, um Elisabeth II. seinen Rücktritt zu erklären; 25 Minuten später stand der Führer der britischen Arbeiterpartei, Harold Wilson, vor der Monarchin, um von ihr mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt zu Werden. Der traditionelle Handkuß, welcher die Audienz von einer Viertelstunde abschloß, kennzeichnete die Gewißheit Mr. Wilsons,

ohne nennenswerte Schwierigkeiten ein neues, sozialistisches Kabinett zu formen. Damit stand der neue Premierminister Großbritanniens fest. Während Wilson mit seiner Familie im Buckingham-Palast weilte, verließ Sir Alec Douglas- Home den Palast durch eine Hintertür, um außerhalb Londons ein ruhiges Wochenende zu verbringen. Wer außerhalb des Königspalastes unter der Menge stand und von Ferne diese Ereignisse beobachtete, wurde Zeuge des Symbols des Machtwechsels in Downingstreet Nr. 10. Sobald nämlich Sir Alec durch die schmiedeeisernen Tore vom Buckingham-Palast verschwunden war, lösten sich „die Schatten“ der Sicherheitsbeamten ohne jegliche Gemütsbewegung von ihm und fuhren zum sozialistischen Hauptquartier — Transport House — am Smith Square, um Minuten später mit Harold Wilson zurückzukehren.

Kabinettsbildung: Prestissimo

Unmittelbar nach diesen zeremoniellen Handlungen begab sich Harold Wilson nach Downingstreet Nr. 10, um mit der schwierigen Aufgabe der Regierungsbildung zu beginnen. Der Wahlausgang hat ihm und den Sozialisten eine hauchdünne Mehrheit gebracht. Die ;,Wachablöse“ in Moskau und eine Reihe von wirtschaftlichen Schwierigkeiten zwangen Premierminister Wilson in seiner Kabinettsbildung zu einem Tempo, das ein Komponist in seinem Musikstück mit Prestissimo bezeichnet hätte. Noch am Freitagabend hatte er die wichtigsten Kabinettsposten besetzt, nämlich mit George Brown als First Secretary of State und Minister für wirtschaftliche Angelegenheiten, Patrick Gordon Walker als Außenminister, Herbert Bowden als Fraktionsvorsitzendem im Parlament, Lord Gardiner als Lord Chancellor (Justizminister), James Callaghan als Schatzkanzler, Dennis Healey als Verteidigungsminister. Ebenfalls noch am Freitagabend wurde Edward Short zum „Ghefeinpeitscher“ für die sozialistische Unterhausfraktion ernannt. Daß dieses Amt so schnell besetzt wurde, erklärt sich aus der knappen Unterhausmehrheit, die den Chefeinpeitscher zu einer der Schlüsselfiguren der ersten Monate der neuen Labour- regierung macht.

Im Lauf des Samstags hat Premierminister Wilson sein Kabinett praktisch vervollständigt. Zum Innenminister wurde Sir Frank Soskice, zum Wohnungsminister Richard Crossman, zum Handelsminister Douglas Jay, zum Minister für Erziehung und Wissenschaft Michael Stewart ernannt. Eine große Überraschung, selbst für ein- geweihte sozialistische Kreise, bildete die Betrauung des bekannten linksstehenden Gewerkschaftsführers Frank Cousins mit dem Ministerium für Technologie, nach den Absichten Harold Wilsons eines der wichtigsten Ministerien seines Kabinetts, da ihm die Aufgabe zufällt, die britische Industrie zu modernisieren und konkurrenzfähig zu machen. Der Aufgabenkreis Frank Cousins’ dürfte sich daher etwa mit jenem decken, den der frühere konservative Handelsminister Edward Heath in seiner gleichzeitigen Funktion als Minister für industriellen Fortschritt wahrnahm. Auch die übrigen Ressorts waren Samstag abends bereits besetzt.

Die Propheten behielten recht

Die Wahl vom 15. Oktober wird aus mehreren Gründen als bemerkenswertes Ereignis in Betrachtun-

gen über die politische Entwicklung Großbritanniens vermerkt werden. Zunächst einmal deswegen, weil es der Arbeiterpartei gelungen ist, die K.-O.-Niederlage von 1959 in einem Anlauf zu überwinden, sodann, weil diese Parlamentswahl eine ununterbrochene konservative Vorherrschaft von dreizehn Jahren abschloß und schließlich wegen einer hauchdünnen Regierungsmehrheit von fünf Sitzen. Damit haben sich jene Wahlvorhersagen als richtig erwiesen, die mit einem Kopf-an-Kopf- Rennen rechneten. Der Wahlausgang hat auch die an dieser Stelle mehrmals wiederholte Behauptung bestätigt, daß sich in den letzten beiden Jahren die Einstellung der englischen Wähler nicht zugunsten der Sozialisten, sondern nur zuungunsten der Konservativen verschoben hat. Bei der Parlamentswahl des Jahres 1959 entfielen nämlich von 27,86 Millionen abgegebenen Stimmen 13,75 Millionen auf die Konservativen und 12,22 Millionen auf die Sozialisten. Bei der letzten Wahl am vergangenen Donnerstag erzielten bei 27,62 Millionen abgegebenen Stimmen die Konservativen 11,99 Millionen und die Arbeiterpartei 12,20 Millionen. Die Sozialisten konnten ihre Stimmenanzahl absolut nicht vermehren. Tatsächlich dürften aber die Jungwähler und die Angehörigen der unteren Mittelklasse (Angestellte, Facharbeiter, Techniker usw.) den Ausschlag gegeben haben, indem sie zwar nicht sozialistisch wählten, aber gegen die Konservativen für die Liberalen stimmten.

Diese Tatsache mag trotz des Wahlsieges viele sozialistische Politiker enttäuschen. Sie dürfte sicherlich auch Premierminister Wilson nachdenklich stimmen und ihn möglicherweise veranlassen, extreme Forderungen des sozialistischen Wahlmanifests nur zögernd und mit großer Vorsicht zu verwirklichen. Die einzige politische Partei, welche sowohl absolut als auch relativ an Stimmen gewann, ist die liberale Partei, welche gegenüber 1959 ihren Stimmenanteil verdoppelte — was auch den Karikaturisten des „Guardian“ zu nebenstehender Karikatur Inspirierte.

Eine nähere Untersuchung der Wahlergebnisse zeigt einen relativen Nettogewinn der Sozialisten von 3,6 Prozent. (Dies ist das arithmetische Mittel aus den relativen Verlusten der Konservativen und den relativen Gewinnen der Labour Party). Gliedert man die Wahlergebnisse nach einzelnen Regionen auf, offenbart sich, daß es den Konservativen in Südostengland, Südwestengland und zum Teil in den Midlands gelungen ist, zumindest mandatsmäßig ihre Position zu behaupten. In typischen Landwahlkreisen blieben die Verschiebungen zugunsten der Labour Party unter dem nationalen Durchschnitt, während in jenen Landesteilen, in denen vor zwei Jahren eine besonders heftige Arbeitslosigkeit auftrat, die Sozialisten die stärksten Gewinne rzielten. In jenen Wahlkreisen, in denen die beiden Großparteien nur knappe Mehrheit besaßen, wich die Veränderung gegenüber 1959 kaum vom nationalen Durchschnitt ab, dagegen mußten die Konservativen in ihren sicheren Wahlkreisen beachtliche Einbußen hinnehmen. Diese Erscheinung scheint die Argumente jener innenpolitischen Kommentatoren zu untermauern, die als eine der Hauptursachen der

Wahlniederlage der Tories die Abwanderung der Wähler aus der typischen Mittelklasse bezeichnen.

Diese gewiß oberflächliche Wahlanalyse bekräftigt die Ansicht, daß es sich gegenwärtig keine britische Regierung auf die Dauer leisten kann, von der Vollbeschäftigungsmaxime abzuweichen. Was schon vor zwei Jahren in der unabhängigen englischen Presse vorhergesagt wurde, ist nun eingetreten: Die Lohnstoppolitik Selwyn Lloyds und die damit verbundene Politik des teuren Geldes, deren Folgen durch einen abnormalen Winter verstärkt worden waren, erwiesen sich zu guter Letzt als politischer Selbstmord.

Der wichtige Mr. Short

Die meisten namhaften Publizisten sind sich einig, daß Wilson im Lauf des Wahlkampfes, zu staats- männischer Statur reifte. Er legte eine gewisse intellektuelle Unsicherheit ab und bewies in seinen Reden sein Geschick, auch komplizierte Zusammenhänge trotz aller Vereinfachungen den Wählern kaum entstellt zu vermitteln. Obwohl Wilson zweifellos zu den fähigsten englischen Politikern überhaupt zählt, dürfte das Regieren für ihn nicht leicht werden. Der Bestand seiner Regierung hängt zum großen Teil von der Fähigkeit seines Ohefein- peitschers Mr. Short ab, dem die zweifelhafte Aufgabe zufällt, interne Zwistigkeiten der Regierungspartei gar nicht erst entstehen zu lassen. Ist die Tätigkeit des Chefeinpeitschers an sich schon schwierig, wird sie in der Labour Party durch latente Spannungen zwischen den ideologisch fortschrittlichen (jüngeren),

nichtmarxistischen Politikern und dem linken Flügel, zwischen den Parlamentariern und den Gewerkschaftspolitikern und schließlich zwischen den außenpolitischen Realisten und den ideologischen Befürwortern einer einseitigen atomaren Abrüstung erheblich erschwert. Sein erstes Meisterstück wird der neue Chefeinpeitscher wohl liefern müssen, wenn der Druck jener Parteikreise zunimmt, die schon in der ersten Sitzungsperiode des neuen Parlaments die umstrittensten Punkte des sozialistischen Wahlmanifests, wie Verstaatlichung der Stahlindustrie, Errichtung einer staatlichen Landkommission und Wiedereinführung der Mietenregelung, in staatliche Gesetze ummünzen wollen.

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