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Digital In Arbeit

Randbemerkungen ZUR WOCHE

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Die Wahlen in die Kammer der Arbeiter und Angestellten zogen den Vorhang von einer nur beiläufig abschätzbaren politischen Szenerie. In der ersten allgemeinen Wahl von 421 Kammerräten im Jahre 1921 erhielten die christlichen Gewerkschaften 20 Mandate; in den zweiten und letzten Wahlen der ersten Republik, 1926, konnten sie ihre Mandatszahl auf 50 erhöhen. Im Jahre 1945 wurden die sogenannten „Richtungsgewerkschaften“ nicht wieder geschaffen und die Wahlordnung in die Arbeiterkammer sieht daher vor, daß jene politischen Parteien Kandidaten für die Kammerwahlen aufstellen dürfen, die sich an der Wahlwerbung für die letzten Nationalratswahlen beteiligten. Das Bild, das sich diesmal zeigt, sollte zu ernsten Überlegungen Anlaß geben. Es ist wahrlich nicht bloß eine interne Angelegenheit der Arbeitnehmer. Hier offenbaren sich die Umrisse der geistigen Struktur einer Bevölkerungsschichte, deren Stellung innerhalb der staatlichen Gemeinschaft Schlüsse auf deren Festigkeit oder Brüchigkeit zuläßt. Alles, was nach klassenmäßiger Scheidung aussieht, muß zur Prüfung der Ursachen und Revision anregen. Dem Wahlergebnis zufolge besitzen, mit Ausnahme von Vorarlberg, die Sozialisten in allen acht Kammern die absolute Mehrheit. Damit haben die Arbeiter zwar dem Linksradikalismus eine eindeutige Absage erteilt, sich aber dennoch für den Marxismus entschieden. Die in der Volkspartei verankerte Gruppe, der Arbeiter- und Angestelltenbund, konnte in Wien, Niederösterreich; Burgenland und Tirol die Stellungen behaupten, aber er hat in den Übrigen Bundesländern Stimmen und Mandate verloren. Während die Sozialisten allein 64,22 Prozent aller abgegebenen Stimmen erhielten, die Kommunisten nur 9,75 Prozent, mußte sich die Volkspartei mit der Partei der Unabhängigen in die übrigen 26,0.3 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen teilen.

Man mag für dieses wenig befriedigende Ergebnis anführen, daß in einzelnen Betrieben auf die Wähler ein starker Zwang ausgeübt wurde, daß viele Wähler nicht in die Wählerlisten eingetragen waren und es auch sonstige Mängel bei der Wahldurchführung gab. Das mag alles zutreffen, wenngleich es nichts an der Tatsache ändert, daß die zwischen der Arbeiterschaft und den übrigen Berufsständen bestehende beklagenswerte Kluft weithin sichtbar in Erscheinung trat. Mit anderen Worten: die Arbeiterschaft steht in ihrer großen Masse auf der linken Seite, während Bauern, Gewerbetreibende und Handwerker rechts stehen. Tritt hier keine Auflockerung der starren Fronten ein, versteifen sie sich klassenmäßig, dann wird der soziale Friede in diesem Land oft in Gefahr geraten. Der Volkspartei wird aus der Situation eine schwere Verpflichtung deutlich. Ihr Arbeiter- und Angestelltenbund erhielt in ganz Österreich 126.493 Stimmen und 122 Mandate, was im Vergleich zu den früheren christlichen Gewerkschaften Wohl eine Verbesserung darstellt, aber diese könnte bedeutend größer werden, wenn die für die Führung des Landes erstverantwortliche Partei eine herzhaftere Sozialund Wirtschaftspolitik führte. Was not tut. ist ein modernes, fortschrittliches Sozialprogramm, das nicht Willen und Streben eines einzelnen Bundes bedeutet, sondern Sozialprogramm der Gesamtpart e i, dem ihre Mühen und ihr Stolz für seine emsig betriebene Verwirklichung gehören.

Das Ergebnis der Arbeiterkammerwahlen unterstreicht, was die „Furche“ vor dem Wahltage sagte: „Das soziale Gewissen der Partei ist zu schärfen, nicht aus Parteitaktik und weil man sonst gegen den von links andrängenden Radikalismus nicht mehr durchkommt, sondern weil es das sittliche Lebenserfordernis einer Partei ist, die den stolzen Titel einer Volkspartei trägt und sich auf ihre christlichen Fundamente beruft.“

Nehmen wir das Gesprächsthema dieser Tage auf„ reden wir von der Teuerung, welche die österreichischen Hausfrauen, Familienväter und Steuerträger jetzt bedrückt. Sprecher wir von ihr und sagen wir kurz und klar: Sie ist nicht nur ein wirtschaftliches, sie ist nicht weniger auch ein moralisches Problem. Die heutige Teuerung wurde aus der „Wenig-arbeiten- und-viel-verdienen“-Mentalität geboren, die allerorten wie ein schleichendes Übel grassiert. In jeder Bevölkerungsschichte und in jedem Berufsstand. Produzenten möchten an einer Ware so viel verdienen wie früher an einem Dutzend, und Zwischenhändler möchten ohne viel Mühe hohe Zwischengewinne einheimsen. Aber auch der Kunde, der Verbraucher wahrt nicht Disziplin; ein noch so albernes Gerücht über Währungsänderungen veranlaßt ihn. sich Hals über Kopf in Angstkäufe zu' stürzen. Die Fleischfrage wäre wahrscheinlich zum Teil geregelt, wenn die Wiener Hausfrauen zwei Wochen lang kein Fleisch kauften, und die Agioteure vor den Kinos, ein besonders krasser Fall, würden verschwinden, wenn es nicht so viele Dumme gäbe, die um jeden Preis einen meist ohnehin minderwertigen Film sehen wollten. Zwei Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen. Daher noch einmal: die Teuerung ist vorerst ein moralisches Problem.

Eine Wanderausstellung mit Kunstschätzen aus den Wiener Museen hat in allen westeuropäischen Hauptstädten Begeisterungsstürme entfacht und möglicherweise unserem Land mehr Sympathien eingetragen, als es das Bemühen der Staatskanzleien erreichen könnte. Zu einer entsprechenden repräsentativen Wanderschau moderner österreichischer Kunst, die, im Ausland so gut wie unbekannt, allerorten Erstaunen über die Leistungen unserer lebenden oder noch nicht lange verstorbenen Künstler erregen müßte, ist es bis nun leider noch nicht gekommen. Ein Umstand, der von kleinen und geschäftstüchtigen Künstlergrüppchen, deren Tätigkeit zu Hause keineswegs allgemeine Bildung erfahren hat, benützt wird, um jenseits unserer Grenzen eine „österreichische Kunstausstellung“ nach der anderen zu starten, deren Teilnehmer oft noch in den Jahren stecken, in denen man kaum befugt ist, sich als Repräsentanten österreichischen Kunstschaffens vorzustellen. Sie versperren Besseren und Tüchtigeren, wohl auch Ernsteren den Weg. In diese Reihen gehört es auch, wenn einige halbsurrealistisch-allegorische Bilder unqualifizierbaren Wertes in aller Welt ausgestellt wurden und schließlich in schöner Bescheidenheit als „österreichische Kunst“ der UN geschenkt werden soll. Andere ähnliche Unternehmungen wären leicht zu nennen. Sie geben zu verstehen, daß es an der Zeit wäre, dem Ausland eine Übersicht über das Bedeutende zu geben, das unsere Künstler hervorbringen. Die Biennale in Venedig, die im nächsten Frühjahr stattfinden wird, gäbe unserer bildenden Kunst dazu Gelegenheit. Sie sollte nicht versäumt werden.

Nach der internationalen Sensation der Wiener Frauenfreistilkämpfe richtet sich das Augenmerk auf einen anderen „Fortschritt" im Sport, der sogar die Einführung von Stierkämpfen in Genf übertrifft — auf die Boxkämpfe in den USA mit tödlichem Aus gang. Als achtes Todesopfer dieser Veranstaltungen in diesem Jahr wurde kürzlich der italienische Schwergewichtler Bertoia aus dem Ring getragen, dem jetzt bereits das neunte Opfer gefolgt ist. Diese Gladiatorenkämpfe kommentiert die italienische Sportzeitung „Tuttosport“ mit einer sehr ernsten Betrachtung, in der sie schreibt: „Sport ist Leben und Leben ist heilig. Niemand darf es gestattet sein, das eigene Leben oder das anderer zur Unterhaltung der Zuschauer aufs Spiel zu setzen.“ Der Sport ist Mittel zur Verschönerung des Lebens, nicht aber ein Übel, das zur Erhöhung des Nervenkitzels Tod und Tötung verwendet. Dieser beachtliche Kommentar wurde im „Osservatore Romano“ wörtlich abgedruckt. Es ist aber festzustellen, daß nicht nur die Presse sich von solchen Roheitsexzessen, Untergangsgladiatoren und ähnlichen widerwärtigen Zeiterscheinungen zu distanzieren beginnt, sondern der gute Geschmack des Publikums dagegen revoltiert. So sind die Genfer Stierhetzen an der Ablehnung des Publikums gestorben. Noch beachtlichere Aufschlüsse über diese Publikumshaltung gibt ein ganz anderer Sektor des Kulturlebens- die Literatur. Auf diesem Gebiet besagen Berichte und Beobachtungen aus einer Reihe von Ländern, daß das Interesse an der Schauer- und Thriller-Literatur einer wachsenden Neigung zu geruhsamer Dichtung, klassischer Literatur und heir ter en Stoffen weicht. Das zeigt, daß die Menschen von heute Scheußlichkeiten nicht einmal lesen, geschweige denn sehen wollen. Was denen ins Stammbuch geschrieben sei. die glauben, mit der Schaustellung von Brutalitäten — sei es im Sportring, sei es im Roman oder anderwärts — ihre Kassen zu füllen.

Staatliche Filmzensoren in Maryland (USA) kamen nach Überprüfung von mehr als 16.000 km Film zu dem Schluß, daß die moralische Qualität der Nachkriegsfilme den bisher größten Tiefstand erreicht hatte. 42% der begutachteten Filme wurden als nicht einwandfrei bezeichnet.

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