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Randbemerkungen ZUR WOCHE

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EINE MINISTERREDE, gehalten in heißen, alles politische Leben abtötenden Sommerwochen, fiel auf und wurde stark beachtet. Da war einmal der vorsichtige Optimismus, den Bundesminister Böck- Greissau bei der Eröffnung der Dornbirner Export- und Mustermesse, wo er auch mit seinem westdeutschen Kollegen, Wirtschaftsminister Dr. Ehrhard, zusammentraf, für die kommende wirtschaftliche Entwicklung aufbrachte. Er unterschied sich ebenso wohltuend von manchen rosaroten Zukunftsmalereien der Vergangenheit wie von jenen ewigen Unkenrufen, die nur die arbeitenden Menschen köpf sehe xf machen und eine Verwirrung bringen. Aber da war noch eine Stelle, die aufhorchen ließ! Der Minister kam auf die innerpolitische Kernfrage, auf die Koalition der beiden großen Parteien zu sprechen. Auf Grund derselben sei man gezwungen gewesen, Kompromisse zu suchen, die sich auf die Wirtschaft nicht immmer günstig ausgewirkt hätten.

„Dennoch ist die Koalition eine Notwendigkeit, und auch nach den nächsten Neuwahlen gebe es keine andere Möglichkeit, als die Zusammenarbeit. Das erkenne man im Osten Österreichs viel deutlicher als im Westen. Wenn wir die kostbaren Güter, um die uns viel reichere Staaten heiß beneiden, nämlich unsere politische Stabilität, die Immunität gegen den Kommunismus und den sozialen Frieden nicht durch die Koalition bewerkstelligt hätten, würden wir uns wahrscheinlich nicht jener Freiheit des Denkens und der Person erfreuen, wie es heute tatsächlich der Fall ist.“'

Es ist zu hoffen, daß die Worte jene Adresse erreichen, für die sie bestimmt waren. ,

ROTE, BLUTIGROTE PLAKATE tauchen da und dort in den österreichischen Städten und Dörfern auf. So hatte einmal — 20 Jahre und länger ist es her — in ihrer Kampfzeit die „Hitlerbewegung“ ihre Kundgebungen und Parolen plakatiert — einige Jahre später kündeten in derselben düster-einschüch- ternden Aufmachung die Afflehen des „Volksgerichtes“ eine neue Schreckensbotschaft: „.,. zum Tode durch das Fallbeil verurteilt ... das Urteil wurde bereits vollstreckt." Und nun sind sie wieder da, diese Plakate, die Boten alten und neuen Unheils. Kein Wunder: die Männer, die sich ihrer bewußt bedienen, sind jene kleinen Trupps ehemaliger SS-Männer, die seit Jahr und Tag eifrig bemüht sind, Gesinnungsgenossen von gestern und heute, für die Sache des anderen Totalitarismus zu gewinnen. Versuche, wie sie in Ostdeutschland mit der „Nationalen Front“ gemacht wurden, dienen dieser in Österreich arbeitenden sogenannten „Nationalen Liga“ wohl unbestreitbar als Modell. Ob der Erfolg den Aufwand der Geldgeber lohnt, darf bezweifelt werden; sehr seltsam aber mutet es schon wirklich an, wenn in den Blättern der extremen Linken, die doch sonst eifrig bestrebt sind, Neonazismus und Militarismus an allen möglichen und auch unmöglichen Orten aufzustöbern, die neuen Freunde öffentlich in Schutz genommen und zu einem Klub der Harmlosen umgedeutet werden. Freilich geschieht dies nicht selten mit einem sehr krampfhaften und gezwungenen Lächeln, aber Befehl ist eben Befehl, und wer ein Neonazi ist, das bestimmt eben...

„REICHTUM UND ELEND“ war das Thema der „Sozialen Woche“, die — zum 39. Mal — heuer vom 22. bis 27. Juli in Dijon stattfand. Die Eröffnung in Anwesenheit des Apostolischen Nuntius, zahlreicher Erzbischöfe, ehemaliger Minister, Staatsräte, Deputierter sowie die Beteiligung hervorragender Fachleute gaben der Veranstaltung ihr Gepräge und ihre über den Tag hinaus ,weisende Bedeutung, die noch autoritativ unterstrichen wurde durch ein päpstliches Schreiben, in dem Pius XII. die Lehren der Kirche und namentlich auch der letzten Kundgebungen des Hl. Stuhles zu dem zentralen Problem, die Erhöhung und gerechtere Verteilung des sozialen Produkts, unterstrichen wurde. An den Anfang stellte der Präsident M. Flory den Grundsatz, daß die christliche Lehre ihren Bekennern gebietet, unablässig um die Beseitigung des Elends bemüht zu sein, zumal dieses in nächster Nähe des üppigsten Reichtums wuchert. Zwischen den Regionen des Hungers und solchen des Überflusses — führte einer der Referenten aus — kann ein Ausgleich geschaffen werden, zu dem vor allem auch die Technik aufgerufen ist, die ihrerseits auch neue Reichtümer zu schaffen in der Lage ist. M. Guitton, Professor an der Rechtsfakultät von Dijon, stellte in einer Übersicht über 'den französischen Staatshaushalt fest, daß das französische Nationaleinkommen sich i« den letzten 3 0 Jahren verdoppelt und während der letzten hundert Jahre versechsfacht hat. Man könne also nicht Übelstände aus einer Stagnation erklären, vielmehr müsse man von einer zu langsamen Expansion sprechen. Es gelte, die Reichtümer besser zu verteilen und das Elend zu mildern; das werde erleichtert werden durch Erhöhung der Produktion, die Ausgestaltung der Produktionswerkzeuge und Verbesserung der neuen Investitionen. Eine ähnliche Klage, wie sie in Österreich immer wieder erhoben wird, hörte man durch den Referenten Prof. Pierre Coutin auch für Frankreich Vorbringen: die öffentlichen Mittel, die der wissenschaftlichen Forschung gewährt werden, seien zu gering. In den „Conclusions“ der Tagung wird hervorgehoben, daß — entgegen der öffentlichen Meinung — die Sozialversicherung das Einkommen der Arbeiter nicht bessere, sondern die Lasten nur allgemeiner verteile. Das Krankenkassenwesen müßte aus seiner Mechanisierung befreit und die persönliche Beziehung zum Patienten verstärkt werden. Immer wieder wurde von Referenten auf die aus der christlichen Lehre resultierende Verpflichtung hingewiesen, die bestürzenden sozialen Unterschiede auszugleichen. Nur allzusehr bringe die fortschreitende Industrialisierung es mit sich, daß sich ein Proletariat bildet, dessen Lebensbedingungen unerträglich sind. Nicht immer sind soziologische Mißstände daran schuld: die Opfer der Inflation, die Obdachlosen (Ausgebombten), die nordafrikanischen Arbeiter und die Vertriebenen (DP) vergrößern diese Elendsmasse. Nur eine „action institutionelle" könne hier Abhilfe schaffen, wobei genau zu unterscheiden ist, was als Utopie betrachtet werden muß und was man mit Hilfe der modernen Technik wirklich erreichen kann.

, UNGARISCHER ALLTAG 1952 ersteht vor unseren Augen im Gespräch. „Du gehst nicht zum Religionsunterricht“ — wird dem siebenjährigen Söhnchen von seiner Mutter eingeschärft — „wohin du gehst, heißt ja bloß Bibelstunde und dafür interessiert sich der Herr Lehrer nicht.“ „Wir gehen nie in die Kirche, das weißt du ja“ — so die Mutter zu ihrem Töchterchen — „Kirche ist eigentlich nur die Pfarrkirche, und wir gehen ja immer in die Marien k a p e 11 e.“ Diese Sätze sind uns als Beispiele erzählt worden, wie Mütter aus einer ungarischen Provinzstadt — die eine Protestantin, die andere Katholikin — ihren kleinen Kindern die erste Begegnung mit der Lüge ersparen oder wenigstens hinausschieben wollen. Denn lügen müssen s i e, wenn großes Unheil von der Familie abgewendet werden soll. Der Herr Lehrer fragt, die kleinen Burschen und Mädchen stehen nacheinander auf und antworten. Der Herr Lehrer macht Aufzeichnungen — auf höheren Befehl —- und die möglichen Folgen: Strafversetzung des Vaters, Verlust der Familienwohnung. Der schlichte junge Mann, der uns dies erzählte, kann unseren Lesern nicht persönlich vorgestellt werden, und das ist schade. Sein Originalvortrag mit dem spezifisch ungarischen Tonfall, sein Blick, der von Nüchternheit und innerer Ruhe zeugt, könnte die Atmosphäre des von ihm Gesagten erst vollständig machen. Der Lärm gewisser „Nachrichtenprofessionisten" der Emigration könnte hier auf keinen Fall einsetzen. Was wir hörten, waren durchwegs Alltagsgeschichten, und was wir empfanden, war vielleicht eben deswegen mehr als sonst ein warmes Gefühl der Solidarität. Jene, die wir diesmal kennenlernten, sind keine Helden, sondern bloß Menschen, Menschen wie wir. Der deportierte ehemalige Generaloberst, der die Aufsicht über die Flottille eines — Bootverleihers innehat, für den Gast die Bootsketten doslöst und dabei seine Philosophie zum besten gibt... die verschreckten Verlobten, die zur kirchlichen Trauung in ferne Gegenden reisen ... der Bankbeamte, der bereits zehn Minuten vor Sieben in seinem Büro zum „Szabad - Nėp - Lesen“ antreten und auf „Stichproben“ gefaßt sein muß... der in eine andere Stadt versetzte'' Gymnasiallehrer, der seine gesamte Wohnungseinrichtung zurücklassen muß, weil er ja „dort eine bessere vorfinden wird“ und außerdem „die Bahn im Sinne des Fünfjahrplans nicht mit überflüssiger Fracht belasten darf“... die Hausfrau in einem einfachen, aber hübschen Kattunkleid — das Meter 45 Forint! —, die stolz ist, wenn die Gäste die Vorgesetzte Bohnenpüree für echte Kastanien halten und loben.,, die Eheleute, die sich wochenlang nicht sehen, weil sie jeweils nach Büroschluß in Gemeinschaftsaktionen Kino- oder Theatervorstellungen von russischen Kolchosstücken oder aber Friedensversammlungen — wo die Themen Duclos und Pestbazillen wechseln — besuchen müssen. Nein, er hat kein Ende, dieser volksdemokratische Alltagstrott...

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