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Randhemerkungen zur woche

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INNERE SPANNUNGEN siitd seit Jahren das Kennzeichen des westeuropäischen Sozialismus. Selten hat aber in der letzten Zeit eine Tatsache so eindrucksvoll die inneren Schwierigkeiten dieses „westlichen“, demokratischen Sozialismus aufgezeigt wie die Absage des englischen Labourministers Aneurin B evan an das Kabinett Attlee. Ihr Ziel: Die Regierung am Parteikongreß im Frühherbst zu einer Änderung ihrer Innen- und Außenpolitik zu zwingen. Diese „Änderung“ wie das ihr zugrunde liegende Dilemma ist von so schicksalsschwerer Bedeutung für ganz Europa, daß sie sorglichste Beachtung im nichtsozialistischen Weltlager verdient. Wie wichtig sie die Sowjets nehmen, geht aus der Annahme gewöhnlich gut informierter Beobachter hervor, daß die Befriedungs- und Beschwichtigungsversuche der sowjetischen Seite in den letzten Wochen wesentlich dahin abzielen, ein günstiges Klima für das zu schaffen, was Bevan als „den einzigen Weg“ (so der Titel seiner Broschüre) des englischen, des demokratischen Sozialismus durchsetzen will. Bevan ist der Überzeugung — nicht nur der „Meinung“ —, daß die Aufrüstung des Westens, so wie sie jetzt tempo- und strukturmäßig durchgeführt wird, den Lebensstandard der breiten Massen in einer Weise senken wird, daß hieraus größere Chancen für den Kommunismus erwachsen als aus der akuten Kriegsgefahr. Er beschuldigt zudem die USA, in rücksichtsloser Ausnutzung ihres Kräftepotentials Europa und vor allem England zu dieser überhitzten Aufrüstung zu zwingen, ohne die Möglichkeit eines Lastenausgleichs für die Massen schaffen zu können. Alle diese massiven, mit Temperament vorgetragenen Anschuldigungen münden in die ultimative Forderung zuerst an die englische, dann an alle westeuropäischen sozialistischen Parteien, die Rüstungen stark einzuschränken zugunsten einer Sicherung des inneren Lebensstandards und zugunsten einer stärkeren Unterstützung der sozial rückständigen Gebiete Asiens, des Nahen und Fernen Ostens und Afrikas, die vom Kommunismus unmittelbar bedroht sind. Durch eine festere Haltung und Politik gegenüber den USA soll zudem der westeuropäische Sozialismus jene dritte Kraft werden, die zwischen den beiden Weltmachtkolossen eine Isolierzone, zumindest einen Schwebezustand ermöglicht. Dem mitteleuropäischen Beobachter ist es nun durchaus klar, daß diese „dritte Kraft“ nur in einem imaginären Raum Platz hat, in der harten Wirklichkeit heute hat sie sich noch nirgends effektiv gezeigt. Insoweit darf Bevans Idee illusionistisch genannt werden. Dennoch bleibt, akut und brennend aktuell, das Problem bestehen, von dem alle seine Erwägungen ausgehen: die Spannung zwischen dem Rüstungshoch und dem sozialen Tief. Hier einen Ausgleich zu schaffen, bedarf es einer Sammlung demokratischer Kräfte weit über das sozia-listische Lager hinaus.

PORTUGAL GILT ALLGEMEIN ALS EIN KATHOLISCHES LAND. Wie so viele. alte Vorstellungen bedarf auch diese einer Korrektur. Zwar sind die führenden Staatsmänner, Ministerpräsident Salazar und viele seiner Minister Katholiken, aber viel Schutt aus der bereits Jahrzehnte zurückliegenden Kulturkampfzeit gilt es noch — wie der „Furche“ aus Lissabon geschrieben wird — zu beseitigen. So überrascht die Nachricht, daß in dem katholischen Portugal die theologische Fakultät von den Hochschulen verbannt ist. Wenn ein Portugiese in Theologie promovieren will, muß er ins Ausland gehen. Die bischöflichen und Ordensseminare haben rein kirchlichen Charakter. Pläne zu einer eigenen katholischen Universität mußten bis jetzt immer wieder zurückgestellt werden, da die Freigabe des vorgesehenen Gebäudes — der ehemalige Augustinerchorherrenkonvent Sao Vicente in Lissabon — vom Staate zwar im Konkordat von 1940 versprochen wurde, bis heute aber noch immer nicht erfolgt ist. In den Mittel- und Grundschulen ist es allerdings schon seit langem wieder möglich, Religionsunterricht zu erteilen, allein der Mangel an geschulten Lehrern macht diese Möglichkeit in vielen Fällen wieder zu einer Illusion. Auch ist es bezeichnend, daß Lissabon, eine Stadt mit fast einer Million Katholiken als Einwohner, bis vor zwei Jahren keine einzige katholische Mittelschule besaß. Mit wachsender Sorge verfolgen nicht zuletzt die portugiesischen Katholiken alle sozialen Spannung en in ihrem Vaterland. Und an diesen fehlt es nicht. Kürzlich erst machte wieder die Jesuitenzeitschrift „Broderia“ darauf aufmerksam, daß in einer Provinz des Südwestens der gesamte Grund und Boden kaum mehr als 1000 Großgrundbesitzern gehöre. Zwar hat der Staat schon viel getan, das Los der armen Landarbeiter, Pächter und Fischer durch den Bau zahlreicher Kleinwohnungen zu erleichtern,

allein die Katholiken auf der Regierungsbank hätten sicher noch mehr Möglichkeit, die reichen Grundherren stärker mit sozialen Gedanken zu beeinflussen. Es wäre auch an der Zeit, durch eine großzügige Agrarreform veraltete Rechte im Sinne der kirchlichen Richtlinien neu zu fassen. Der Erzbischof von Evora hat im vergangenen Jahr nicht umsonst an die Adresse der Grundbesitzer des Südwestens die Mahnung ausgesprochen, es sei ihre Schuld, wenn jene Gebiete von linksextremistischen Agenten mit einem gewissen Erfolg bearbeitet würden.

WIR ÖSTERREICHER UND WIENER beschweren uns mit Recht, wenn das Ausland, das uns jahrzehntelang vorwiegend unter der Perspektive des „Heurigen“ zu betrachten liebte, seit einigen Jahren zur „Dritten-Mann“ -Schablone übergegangen ist, Berichte über Wien und Österreich allzusehr auf den Grundton der „sterbenden Märchenstadt“ des „Lebens in der Vergangenheit“ abstimmt und die positive Aufbauarbeit dabei übersieht. Um so eher müßten wir daher bemüht sein, alles zu beseitigen, was derartige Vorurteile fördert. Hieher gehört vor allem das traurige Kapitel der Wiener Bahnhöfe und ganz besonders das des Wiener Südbahnhofes. Auf diesem Bahnhof kommen außer den Reisenden aus den südlichen Bundesländern und den Heimkehrern aus der Kriegsgefangenschaft auch alle Italiener und Engländer (die über den Semmering und nicht über die Ennsbrücke einreisen müssen) nach Wien, also die Angehörigen von zwei Nationen, die in der österreichischen Fremdenverkehrsstatistik an der Spitze stehen und die in ihren Ländern an moderne, saubere Bahnhöfe gewöhnt sind. Es läßt sich schon nicht vermeiden, daß sie von Wien zuerst einen Bezirk sehen, in dem die fremde Besatzung stärker in Erscheinung tritt als in anderen Teilen der Stadt. Was sich aber vermeiden ließe, ist der desolate, verwahrloste Anblick, den die Südbahnhofruine dem Ankommenden bietet. Der Hinweis, daß „ohnedies demnächst der neue Süd-Ost-Bahnhof gebaut wird“, ist keine Entschuldigung, denn auch Ruinen können einen sauberen, aufgeräumten Eindruck machen. In der zerbombten „Halle“ des Südbahnhofes aber liegen einzelne Ziegelsteine, über die die zum Ausgang strebenden Reisenden stolpern, dazwischen — im Sommer — ein Sandhaufen „zum Aufstreuen bei Glatteis im Winter“. Zerbrochene Scheiben und Schmutz, wohin man blickt, ergänzen diesen „ersten Eindruck“ Muß man sich da wirklich wundern, wenn man in ausländischen — und ganz besonders oft in italienischen und englischen — Zeitungen immer wieder von der Apathie und Verträumtheit Wiens und seiner Bewohner liest?

DIE RAUCHER SOLLEN NUNMEHR IN ZUKUNFT unser Kulturleben im allgemeinen und die Privattheater im besonderen finanzieren helfen — indem sie bei ihrem Zigarren- oder Zigaretteneinkauf einen Zuschlag zum Recüepreis zahlen. Dafür bekämen sie Gutscheine, die ihren Besitzern in Buchhandlungen oder an Theaterkassen eingetauscht würden. So lautet ein Vorschlag, der im Rahmen einer Enquete noch fachmännisch geprüft werden soll. Es ist nicht anzunehmen, daß diese Enquete dem Projekt ihre Zustimmung geben wird, denn die öffentliche Meinung steht ihm von Anfang an mit Mißtrauen gegenüber. Skeptisch bemerkt sie, daß die Verwirklichung des Vorschlags eine Riesenorganisation von Verrechnern, Kontrolloren und Geldeinhebern voraussetze — eine Organisation, die von vornherein soundso viele Prozente der zu erwartenden Summen verschlingen müsse. Übrigens könne der Zuschlag ja nur bei größeren Verkaufsquantitäten, also etwa bei einer Schachtel Zigaretten, eingehoben werden — tute aber, wenn nur fünf Zigaretten verkauft werden? Gewiß, das sind sehr simple Einwände. Aber sie genügen, um die Schwierigkeiten dieses Unternehmens deutlich zu machen. Das ernsteste und wahrscheinlich unwiderlegliche Argument wider den neuen Vorschlag ist aber der Hinweis, daß eine solche Kultursteuer — denn etwas anderes wäre sie nicht — die persönlichen Rechte des Staatsbürgers ernstlich beeinträchtigt: denn, um es grob auszusprechen, es ist einer nicht verpflichtet, Privattheater zu finanzieren, wenn er ihnen kein Interesse entgegenbringt. Er ist nicht verpflichtet, Bücher zu kaufen, wenn er keine Bücher lesen will. Die gewissen Kopplungsverkäufe — es gab Zeiten, da man Obst nur bekam, wenn man dazu Eiersatzpulver kaufte — standen zu allen Zeiten unter Polizeistrafe. Deswegen kann es schwerlich berechtigt sein, Zigaretten- und Theaterkartenverkauf zu koppeln.

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