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Randhemerkungen zur woche

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EINE LANZE FÜR DAS MEHRHEITSWAHLRECHT wird in der letzten Nummer des theoretischen Organs des österreichischen Sozialismus gebrochen. Wenn auch die Redaktion der „Zukunft' es nicht versäumte, Distanz zwischen sich und dem Autor — einem Sozialisten der jüngeren Generation — zu legen, so ist es allein schon beachtlich, daß dieses Thema überhaupt von sozialistischer Seite aufgegriffen und positiv behandelt wird. Bisher war es nämlich anders. Das Verhältniswahlrecht galt hier als „tabu“, und jeder Zweifel daran wurde sofort mit bösen Hintergedanken, mit „reaktionären Machenschaften' in Zusammenhang gebracht. Dieses Vorurteil kennt Heinz Friese nicht. Im Gegenteil. Er ficht mit dem Argument, daß, „wenn wir die parlamentarische Demokratie erhalten und verankern wollen“, ein Uebergang vom Verhältnis- zum Mehrheitswahlrecht notwendig erscheint. Konkret gesprochen: bei dem bestehenden Wahlrecht wird auf absehbare Zeit keine Partei in Oesterreich je die Mehrheit erhalten. Die oft gerade von sozialistischen Agitatoren angestrebten „berühmten 51 Prozent“ werden ausdrücklich als „Trugbild“ bezeichnet. „Koalitionen“ werden daher in dieser oder jener Zusammensetzung stets unvermeidlich sein. Ergebnis: Nie wird eine Partei ihr Programm voll durchsetzen können, stets hat jede Partei die Möglichkeit, eigene Unterlassungen mit dem Hinweis auf den hemmenden Regierungspartner mehr oder weniger überzeugend zu entschuldigen. „Wo keine Mehrheiten zustande kommen können, da gibt es auch keifte klare Verantwortlichkeit und keine sichtbare Führung. Die Demokratie setzt aber mehr noch als jedes andere System echte Führung voraus.“ Entwicklung zum Zweiparteienstaat; Regierung und Oppositionspartei, die die Möglichkeit haben müssen, alle vier Jahre die Rollen zu tauschen; daneben ouc/i die Möglichkeit für kleine Parteien, wenn sie wirklich ein echtes Anliegen verfolgen, zu einer großen Partei aufzusteigen (Labour Party übernahm von der Liberalen Partei die Aufgabe einer zweiten Großpartei); daneben Zuiückdrängung der „Manager“ eben durch das Personenwahlrecht und den dadurch wesentlich stärkeren Kontakt zwischen Wähler und Abgeordnetem: das sind für Friese Meilensteine zu einem „fälligen Strukturwandel der politischen Formen, der uns die Demokratie beleben und erhalten soll“. Allheilmittel gegen alle Krankheiten der Demokratie ist das Mehrheitswahlrecht bestimmt auch nicht. Aber einer sachlichen Prüfung und sorgfältigen Untersuchung auf seine Möglichkeiten und eventuellen Geiahren ist es schön wert. Auch bei uns in Oesterreich, gerade bei uns in Oesterreich.

TR1EST, Italiens alter nationaler Anspruch und natürlicher Haupthaien des westlichen Donauraumes, ist jetzt Europas neuralgischer Punkt Nr. 1. Der überraschende Entschluß der angelsächsischen Mächte, den Freistaat zu räumen und die künftige Regelung den beiden gegnerischen Bewerbern anheimzugeben, wird nicht überall Beifall finden. Eine echte Selbstregierung, wie sie erst kürzlich der Montrealer „Star“ vorgeschlagen hat, unter Beteiligung der Scltweiz und Oesterreichs, allenfalls unter skandinavischem Vorsitz, wäre wahrscheinlich zweckmäßiger gewesen. Allein, sie hätte von langer Hand geplant und vorbereitet und nicht den wechselnden weltpolitischen Konjunkturen unterworfen werden dürfen. Zur Stunde, da diese Zeilen geschrieben werden, liegt noch ein Schleier über der künftigen Entwicklung. Niemand kann heute sagen, welchen Weg sie nimmt, und ob es geraten war, Jugoslawien dem mühsam gezimmerten Balkanblock wieder zu entfremden und es — wer weiß es — auf den Osten zurückzuverweisen, oder ob die zentrale Stellung Italiens im Mittelmeer solche Besorgnisse als sekundär erscheinen läßt. Oesterreich hat an Triest ein altes und wohlbegründetes wirtschaftspolitisches Interesse — es ist unser Tor in die Welt. Die „Furche“ darf darauf verweisen, daß sie die Bedeutung einer friedlichen und vorausschauenden Lösung dieser Frage oft und eingehend dargelegt hat. Nun muß es sich zeigen, ob die neueste sensationelle Wendung der angestrebten Entspannung in Europa wie den berechtigten Interessen der auf das Funktionieren der adriatischen Handelsmetropole angewiesenen Länder dienlich sein wird.

VON DER HEIMKEHR AUS DEM INTER-NIERUNGSLAGER berichten einmütig und glaubwürdig Pressemeldungen und Privatbriefe aus Ungarn. Jene Tore öffnen sich, und in Scharen und Gruppen kehren hunderte und tausende Menschen in ihre Heimatorte, zu Familie und Beruf zurück, viele nach Jahren der Abwesenheit. Wie es dazu kam, von der ersten Ankündigung an in der Juli-Proklamation der Regierung bis zu den entsprechenden Regierungserlässen, darüber wurde hier laufend berichtet. Dennoch erscheint es als notwendig, das Thema auch weiterhin und immer wieder neu aufzugreifen. Und in diesen Tagen und Wochen geschieht auch anderes, eis daß einige tausend Familien im stillen, ohne Pressephotographen und Mikrophon Aehn-liches erleben wie die Familie des englischen Geschäftsmannes Sanders vor einigen Wochen.

Wir wissen noch nicht, ob jene Lager von dem 31. Oktober, der amtlich festgesetzten Frist, an tatsächlich leer dem Winter auf der Ungarischen Tiefebene entgegensehen werden. Aber wenn ja, so würde es heuer in Ungarn den ersten Winter ohne Internierungslager geben, und zwar seit dem Jahre 1939! (1945 gab es freilich Personenwechsel.) Und somit würde Ungarn der erste totalitäre Staat sein, der seine Bürger nicht mehr mit solchen Mitteln drohen und einschüchtern will. Wir wissen es noch nicht. Aber wir wissen, daß das wachsame Auge Moskaus auf Budapest ruht, daß große Regierungsabordnungen eingetroffen sind, wie am 29. September abends 19 Landwirtschalts-experten unter Führung eines Ministerialdirektors, um das andere Experiment, die Liberalisierung der Kolchosenwirtschaft zu überwachen. Auch mußte es auIlaUen, daß es Zeitungen Wagen düiien, Erpressungen etwa korrupter Konzertveranstalter anzuprangern, die ihr „Kulturprogramm“ maßlos erschrockenen Bergwerksdirektoren durch die freundliche Mitteilung aulnötigen: „Sonst werden wir Sie von der Polizei abholen lassenl“ Und in der Zeitung kommen nicht nur der Erpresser und der Erpreßte schlecht weg, sondern — stillschweigend, aber vernehmlich — auch die Polizei. Ungewohnte Zeichen, gewiß. Nur das heißeste Eisen wird hartnäckig noch immer nicht angerührt. Wir meinen den Salz aus der Regierungsproklamation: „In Fragen der Religion soll größere Geduld erwiesen werden. Die Regierung verurteilt die Anwendung von administrativen oder anderen Zwangsmaßnahmen und wird sie nicht mehr dulden.' Wann wird also hier, auch rückwirkend, Ernst gemacht? Oder wird die gerade hier aulgestaute Masse von Leidenschalten als zu explosionsgefährlich und die Prestigefrage als unlösbar gehalten? Und gerade deshalb: hier scheiden sich die Geister...

VOR SECHS JAHREN WEHTE UBER INDIEN noch die britische Flagge. Heute stellt dieses Land den Präsidenten für die neue Sitzungsperiode der Vollversammlung der Vereinten Nationen, der größten politischen Organisation der unabhängigen Staaten in der Welt. Und es ist nicht ein indischer Politiker, sondern eine indische Frau, die auf diesen hohen und ehrenvollen Posten berufen wurde. Die beiden Talsachen umschreiben ein Stück Geschichte unserer Zeit: den Aufstieg Indiens zu einer Großmacht, die weniger durch ihr wirtschaftliches und militärisches als durch ihr politisches und geistiges Gewicht von unschätzbarer Bedeutung für die künftige Entwicklung Asiens ist, und den stürmischen Umbau in Asien, der heute uralte soziale Einrichtungen zur Seite schiebt und nun auch den Frauen den Weg in alle Lebensbereiche öffnet. Während in Indien der Ruf nach Freiheil und nach einer Erneuerung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung die breiten Schichten des Volkes noch kaum erreichte, schloß sich Frau Vijaya Lakschml schon Gandhi und ihrem Bruder Nehm an, die die Vision eines neuen selbständigen Indiens verkündeten. Sie tauschte das bequeme Leben einer Tochter aus reichem Hause sehr häufig mit den elenden Gefängniszellen, sie rief und predigte und half mit, bis die Bewegung gesiegt hatte und die britische Flagge niedergeholt wurde. Leiterin der indischen Delegation bei der UNO und Botschafterin ihres Landes in Moskau, Washington und Mexiko waren ihre ersten politisclien Missionen im Ausland. Heute nun steht sie an der Spitze der Vollversammlung der UNO. Von Amerika — so kommentiert die „Badische Zeitung“ —, das Frau Lakschml als Präsidenten vorgeschlagen hatte, war diese Rangerhöhung nicht nur als Anerkennung ihrer diplomatischen Fähigkeiten und des politischen Gewichtes ihres Landes gedacht, sondern ein wenig auch als Trostpreis für das geringe Interesse, das Amerika sonst für Indiens Vermittlerrolle zeigt.

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