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Reform! Aber wie?

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Auf den ersten Blick scheint es, daß die Reform einer demokratischen Partei ausschließlich deren interne und vor allem organisatorische Angelegenheit ist. Eine solche Auffassung irrt aber schon deshalb, weil die Parteien im demokratischen Staat in einem dauernden Wettbewerb stehen; bevor nun dieser Wettbewerb sinnvoll bestanden werden kann, ist es notwendig, sich über die Spielregeln klar zu werden.

Diese Spielregeln der parteipolitischen Auseinandersetzung in der modernen Demokratie können sehr unterschiedlich sein, je nachdem, ob man zum Beispiel den Parteienstaat in extremer Form, die egalitäre Demokratie, den Far-teienproporz usw. absolut bejaht, oder ob man die Demokratie mit personalen Werten ausstatten, die staatlichen und parteipolitischen Bereiche möglichst sauber trennen und vor allem den demokratischen Rechtsstaat verwirklichen möchte. Bisher hat sich die ÖVP zwar in ihren grundsätzlichen Erklärungen eindeutig zur letzteren Auffassung bekannt, aber die politische Praxis sah häufig anders aus; hat doch einer der prominentesten Mandatare der ÖVP durch längere Zeit hindurch die Theorie verfochten, in Österreich sei ohnedies alles in Ordnung, weil 4er moderne Parteienstaat nur so und nicht anders funktionieren könne. Und schließlich war es der Generalsekretär der ÖVP, der im Zuge eines Gerichtsverfahrens die Bemerkung machte: Was ist der Staat? Das sind doch wir, die politischen Parteien!

Daß die SPÖ die egalitäre Demokratie verficht, daß zum Beispiel der um die Lösung demokratischer und parlamentarischer Probleme sehr bemühte Präsident des ÖGB, Abgeordneter O 1 a h, nicht an die Notwendigkeit der Herausbildung von Eliten' glaubt und daß für den klassenkämpferischen Flügel dieser Partei der Proporz als geeignetstes Mittel erscheint, den Kisssardcampf ,in allen: JJeiieicterr); des* :öffent* Hefa Lebens ündi*)iaseisdiöö dapöber'tenÄis1 auch in privateren Sphären auszutragen, wird niemanden wundern, der die geschichtliche Tradition der sozialistischen Bewegung kennt. Diejenigen Parteien aber, die sich auf christliche Grundsätze berufen, haben andere Vorstellungen vom Wesen der modernen Demokratie und des Rechtsstaates.

Das Dilemma der ÖVP-Politik dürfte nun zum nicht geringsten Teil darin bestehen, daß sie in ihrem Programm die personale und rechtsstaatliche Auffassung vom Wesen der Demokratie vertritt, im praktischen Handeln aber sich nur allzu häufig die extremsten parteienstaatlichen Methoden aufdrängen läßt. Nicht nur, daß die ÖVP dadurch an Glaubwürdigkeit verliert, weil Theorie und Praxis bei ihr so verschieden sind, akzeptiert sie auch eine Form der politischen Auseinandersetzung, der sie ihrer ganzen Struktur nach nicht gewachsen sein kann. Durch halbe Lösungen gerät sie taktisch immer mehr ins Hintertreffen. Auf personalpolitischem Gebiete sieht dies etwa so aus: Verhilft die ÖVP aus rein parteipolitischen Gründen einem ihrer exponierten Anhänger zu einer führenden Stellung, so setzt sie sich dem Vorwurf aus, den Proporz im gleichen Maße zu bejahen wie die SPÖ und rein fachliche Qualitäten zu wenig zu berücksichtigen; setzt die ÖVP aber einen Fachmann auf eine einflußreiche Stelle, in der er häufig auf einen radikalen Widerpart der SPÖ trifft, so dauert es meist nicht lange, bis Klagen laut werden, der reine Fachmann vernachlässige die ÖVP-Interessen zu stark, er treibe keine ebenso konsequent parteiisch ausgerichtete Personalpolitik wie der SPÖ-Exponent usw.

Man kann, um es drastisch auszudrücken, nicht einen klassischen Ringer einem Boxer gegenüberstellen. Der Ausweg besteht wohl nur darin, daß entweder der Ringer zum Boxer wird oder der Boxer gezwungen ist, sich an die Regeln des klassischen Ringkampfes zu halten.

Um ins Konkrete zu kommen: Die ÖVP bejaht den Rechtsstaat, aber sie gibt sich doch häufig dazu her, im Wege der Gesetzgebung durch Verfassungsbestimmunjen die Urteile oberster Gerichte, wie des Verfassungsgerichtshofes, wirkungslos zu machen.

Die ÖVP bejaht die personalen Werte der Demokratie, aber sie entfaltet keine Initiative, um beispielsweise das reine Verhältniswahlsystem zugunsten eines stärkeren Hervortretens der persönlichen Auslese umzugestalten, sie läßt ferner den gewählten Volksvertretern durch den starren Klubzwang ebenso wenig Raum für eine freie persönliche Entscheidung wie die SPÖ usw. Dabei hätten gerade die Abgeordneten einer Partei mit christlichen Grundsätzen eine echte Rechtspolitik zu verfolgen, worunter doch nicht nur die Schaffung formal richtiger Gesetze verstanden werden darf, sondern vor allem die Verwirklichung eines Rechtszustandes, der den sittlichen Normen der Gerechtigkeit möglichst nahekommt. Daher ist auch nicht nur etwa ein Gesetzesbeschluß über Einführung oder Abschaffung der Todesstrafe eine Gewissensentscheidung, sondern praktisch jedes Gesetz, das nicht allein reine Zweckmäßigkeitsfragen behandelt.

Das alles ist nicht nur graue Theorie, sondern echte politische Realität. Wenn nämlich zwischen der Staatsauffassung und dem Demokratieideal der ÖVP einerseits und der staatlichen Wirklichkeit anderseits eine zu große Diskrepanz entsteht, dann kann die ÖVP ihre Vorzüge gar nicht mehr zur Geltung bringen. Wenn beispielsweise der totale Proporz im Staate gilt, dann ist es uninteressant, ob die ÖVP überhaupt noch die größere Anzahl von Fachleuten oder die besseren Fachleute besitzt; wenn Staatspolitik nicht wirklich vor Parteipolitik rangiert, dann ist es wirkungslos, wenn sich die ÖVP in der Theorie zu diesem edlen Grundsatz bekennt us.v.

Im übrigen könnte der Eindruck entstehen, daß sich seit 1945 manches in der Einstellung der ÖVP zum Staat geändert habe: Im er^n Wahlkampf betonte sie mit Stolz, daß sie die einzige Partei sei, di: das Wort „österreichisch“ als erstes Wort im Parteinamen führt. Heute hingegen scheinen manche Kreise fast einen Widerwillen zu empfinden, wenn die Eigenständigkeit des Österreichertums besonders herausgestrichen wird.

Auch ist eine Propaganda nicht ungefährlich, die in ihrer berechtigten Ablehnung der Ver staatlichung, einer drohenden Staatsallmacht usw. die positiven Werte des Staates an sich zu übersehen scheint, um manchmal geradezu bewußt einen Zwiespalt zwischen den Bürgern und ihrem Staat zu säen. Ist doch eine rein instrumentale Staatsauffassung falsch, die im Staat nur ein Mittel zu bestimmten und sehr begrenzten Zwecken sieht. Außer den Idealen des „Rechtsstaates“, „Sozialstaates“ usw. muß Österreich vor allem auch die eines wahren Kulturstaates zu verwirklichen trachten. Nicht in dem Sinn freilich, als ob Kultur mit politisch-administrativen Mitteln „gemacht“ werden könnte. Im Gegenteil: Kulturstaat ist ein Staat nur dann, wenn er die allem Schaffen, Lehren und Aufnehmen von Kultur wesensnotwendige Freiheit anerkennt; wenn er anderseits aber die Kultur in seine Obhut nimmt, und zwar durch Schutz, Pflege und Vermittlung kultureller Werte und Arbeiten. Freiheit der Kultur :m Staate ist daher nicht gleichbedeutend mit Trennung der Kultur vom Staate, um so weniger, als der Staat selbst als höchstes Kulturgebilde der menschlichen Gesellschaft verstanden werden muß. Jede andere Auffassung käme einer Herabsetzung und einer Verkennung des Wesens des Staates gleich.

Nach christlicher Auffassung kann freilich eine Kulturpolitik nur dann sinnvoll gestaltet werden, wenn sie sich auf eine wesenhafte Ordnung der Werte stützt, wozu auch die Anerkennung der Religion als stärkste Quelle der Kultur gehört. Zur Erfüllung dieser Aufgabe haben Kirche und Staat in echter Partnerschaft zusammenzuwirken. Die erstrebte Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche im Staat darf niemals zur feindseligen Trennung des Staates von der Kirche führen, da nur beide gemeinsam — Kirche und Staat — jene Verhältnisse schaffen können, die den Bürgern die volle Entfaltung ihrer Persönlichkeit, insbesondere in sittlichen und geistigen Belangen, gewährleistet.

Solche Grundsätze müssen selbst dann verwirklicht werden, wenn sie einen momentanen parteipolitischen Nachteil zur Folge haben körinten. Im Konkreten kann dies beispielsweise bedeuten, daß die Unabhängigkeit der Kirche von der Tagespolitik auch dann zu wahren ist. wenn die gegenteilige Haltung parteipolitisch nützlicher scheint; oder daß dem Ideal des Rechtsstaates unter allen Umständen nachzueifern ist, selbst wenn sich die eigenen konjunktur- und steuerpolitischen Bestrebungen dadurch nicht so schnell verwirklichen lassen. Damit soll keinesfalls gesagt sein, daß nicht auch die Verfassung geändert werden kann, insbesondere, wenn der Staat “neue Aufgaben- zu übernehmen hat. auf dieser “Veffassurjgsgeber seinerzeit gar nicht Bezug nehmen konnte. Aber meist ist die Einhaltung der Verfassung, die doch die Grundordnung eines Staates ist und im Fluß des politischen Geschehens einen gesicherten rechtlichen Halt gewährleisten 6oll, ein größeres Gut als jenes, das man durch die Abänderung einer Verfassungsnorm zu erzielen vermag. Außerdem erfüllt eine Verfassung ihren Zweck überhaupt nicht, wenn sie immer dann durch eine Novellierung geändert oder durch andere Maßnahmen wirkungslos gemacht wird, wenn sie eigentlich zur Anwendung kommen sollte.

Freilich sind Grundsätze, je allgemeiner sie gefaßt werden, desto zeitloser und scheinen auch desto zeitferner. Wenn sie auf eine bestimmte Situation angewendet werden sollen, ist ihre Verwirklichung meist nicht reibungslos möglich; auch Toleranz und Kompromisse haben in der menschlichen und insbesondere politischen Ordnung ihren festgefügten Platz. Aber Kompromisse sollten mit den Realitäten des Lebens und mit Rücksicht auf die Zeitsituation geschlossen werden; dann sind sie gerechtfertigt. Kompromisse aus verschiedenen, einander widersprechenden Elementen und Grundsätzen hingegen können immer nur Unordnung schaffen und gegenüber ihrem Initiator Unglaubwürdig-keit erzeugen.

Zweifellos erschwert die Koalition die Erfüllung dieser Forderungen ganz beträchtlich. Da die beiden Regierungsparteien oftmals gerade in ihren Grundsätzen nicht übereinstimmen, sind weitreichende Kompromisse unvermeidlich. Dennoch muß sich die ÖVP darüber im klaren sein, daß sie entweder ihre Ideen, insbesondere hinsichtlich der rechtsstaatlichen Demokratie, im politischen Alltag durchsetzen muß oder mit ihrer Prögrammatik und mehr noch mit ihrer Methode Schiffbruch erleiden wird. Es ist auf die Dauer ganz einfach nicht möglich, als fried-Tertiger, wohlgekleideter Bürger nach Einbruch der Dunkelheit durch unsichere Gegenden zu wandeln. Entweder sorgt man durch Licht und Ordnungshüter für die Angepaßtheit der Umwelt an den eigenen Stil oder man muß diesen Stil ablegen und selbst mit dem Stock bewaffnet, jederzeit auf Handgreiflichkeiten gefaßt, durch derartige Gefilde schreiten. Und schließlich muß man vor allem selbst von der Richtigkeit der eigenen Grundsätze überzeugt sein.

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