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Religion der Freiheit?

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Benedetto Croces „Geschichte Europas im 19. Jahrhundert“ (Europaverlag, Wien, 1948) erschien erstmalig 1932. Damals erreichten die neuabsolutistischen Strömungen, noch nicht durch die Praxis kompromittiert, den Höhepunkt ihrer geistigen Wirksamkeit. Daß Croces Werk gerade in diesem Augenblick, als die Idee der Freiheit von allen Seiten als überlebt verachtet und verhöhnt wurde, für sie eingetreten ist, ist ein historisches Verdienst. Inzwischen haben sich Sachlage und Gesichtspunkte nicht unwesentlich geändert. Trotz des Wandels der zeitgeschichtlichen Konstellationen und der manchmal nicht nur überscharfen, sondern falschen Verteilung der Akzente, bietet das Werk durch seine Darstellung der historischen Lebensmächte auch heute noch reiche Möglichkeiten zu fruchtbarer Auseinandersetzung.-

Im Ringen der Lebensmächte um die Gestaltung der Geschichte des 19. Jahrhunderts steht für Croce die „Religion der Freiheit“ in scharfem Kampf mit dem Katholizismus, dem Absolutismus und dem, was er als Demokratie bezeichnet: jene mechanistische Gleichheitslehre, die alle Individuen nur als gleichwertige Kraftzentren, nicht aber als freie Personen betrachtet. Nach der Niederwerfung Napoleons sieht Croce die Gegner der Freiheit zunächst in der Heiligen Allianz zusammengefaßt, als einem Macht- und Gewaltbau der absolutistischen Militärbürokratien der Habsburger, Hohenzollern und Romanows. Mit ihnen bis zur Abhängigkeit verbündet sei eine. Kirche, deren Zerfallsprozeß die Gegenreformation nicht aufgehalten, sondern unheilbar gemacht habe, indem sie den schwindenden religiösen Gehalt durch politische Geltung ersetzte. Anfänglich ohne reale Machtmittel, gelinge es der Freiheitsidee, die gegnerischen Stellungen von innen heraus zu durchdringen und entscheidenden Einfluß auf den geistigen und gesellschaftlich-politischen Aufbau Europas zu gewinnen: die Monarchien erhalten Verfassungen, die äußeren Rechte der Kirche werden beschränkt und die sozialdemokratische Arbeiterbewegung nimmt das freiheitliche und humanitäre Ethos in sich auf.

In diesem Abschnitt hält Croce noch an der Geisteshaltung des 19. Jahrhunderts fest, ohne die Fortschritte der historischen Kritik oder selbst die Weiterentwicklung des liberalen Denkens zur Kenntnis zu nehmen. Die Abwehr der Heiligen Allianz und der Kirche richtete sich nicht gegen den Gedanken organischer Reformen — der etwa in Österreich seit Maria Theresia heimisch war —, sondern gegen Revolution und Diktatur, gegen jenen Einbruch illegitimer Gewalten, der in Zügellosigkeit begonnen und in Knechtschaft geendet hatte. Kontinuität und Legitimität, welche die konservativen Kräfte damals zu schützen suchten, werden heute ebenso wie die christlichen Glaubcnswerte auch von liberalen Denkern — etwa Wilhelm Röpke — als Grundlagen jeder freien abendländischen Gemeinschaftsordnung anerkannt. Daß Croce sich dieser Einsicht verschließt, ist um so befremdender, als er in den folgenden Kapiteln die Bedrohung der ethischen Freiheitsidee durch den heraufkommenden Nihilismus klar herausarbeitet.

Mit dem Verlust der moralischen Kraft beginnt der Abstieg des Liberalismus. „Der religiös-ethische Impuls war ermattet, es war die Fähigkeit verlorengegangen, die notwendigen Begriffe zu schaffen, das innere Leben des Gewissens war abgestorben, in dem allein Schmerz, Trauer’und Angst sich läutern und tröstliche Kräfte der Erneuerung hefvorbringen können.“ Gleichzeitig treten die Bruchlihien zwischen dem Liberalismus als ethisch-politischer Idee und der mit ihm fälschlich gleichgesetzten Freiwirtschaftslehre hervor, die Croce als Liberismus bezeichnet. Dessen Unfähigkeit, den sozialen Schäden abzuhelfen und die Zusammenballung der Reichtumsmacht in den Monopolen gefährden und kompromittieren auch den Freiheitsgedanken. Inzwischen sammelt sich in den von wirtschaftlichem Ausdehnungsdrang und militärischer Stärke strotzenden Staaten der Zündstoff für die Katastrophe. Deutschland, in dem die geistige Oberschichte sich nach dem Versagen des Frankfurter Parlaments vom öffentlichen Leben zurückgezogen und später Bismarcks Machtpolitik verherrlicht hatte, wird zur illiberalen Großmacht im Herzen Europas. Die Bewunderung der Gewalt beginnt die Völker des Abendlandes zu erfassen.

Die geistigen Wertgehalte des humanistischen Denkens werden von Materialismus und Naturalismus, von Irrationalismus und 'Mystizismus zersetzt und aus dem nun sinnentleerten Freiheitsprinzip entspringt die Lebensanschauung des „Aktivismus":

„Wenn man nämlich der Freiheit ihre moralische Seite nimmt, wenn man sie von ihrer Vergangenheit und ihrer verehrungswürdigen Tradition loslöst, wenn man bei der ständigen Schöpfung neuer Formen, die die Freiheit erforderlich madit. ihr den objektiven Wert solcher Schöpfungen raubt… wenn man die innere Disziplin, die sich aus freien Stücken der Freiheit unterwirft, durch äußere Führung und Kommandierung ersetzt: dann bleibt nichts weiter übrig als die Tat um der Tat willen … dann kommt der Aktivismus zum Vorschein. Der Aktivismus führt zur Herrschaft des Einzelnen über die Einzelnen, zum Servi'lismus der anderen und schließlich zur eigenen Knechtgesinnung, zur - Unterdrückung der Persönlichkeit, die er in einem ernsten Moment zu heben wähnte, während er sie in Wirklichkeit des moralischen Gewissens entkleidete, ihr ihr innerstes Wesenselement raubte und der Vernichtung preisgab.“

Das Heraufkommen des modernen „Aktivismus" ist nach Croce das Ergebnis des

Verblassens der materialen Wertgehalte in der „Freiheitsreligion“ und des schwindenden Einflusses ihrer Träger, der „Notabeln“, der „liberalen Aristokraten“, auf die öffentliche Meinung. Aber diese Geistesaristokratie, die im Westen noch den Namen der „clercs“ trägt, hat trotz ihrer Verweltlichung ihre kulturelle Herkunft vom mittelalterlichen Klerus kaum je grundsätzlich verleugnet, und die von ihr vertretenen Wertinhalte stammen so gut wie ausschließlich aus der antik-christlichen Tradition. Wie Toffanin in seiner „Geschichte des Humanismus“ dargelegt hat, waren schon in der Renaissance jene Bildungsträger keineswegs antichristlich gesinnt und betrachteten nicht die kirchliche Lehrautorität, sondern die frühnaturalistischen Strömungen als ihre Hauptgegner. Gerade Croces Werk beweist auch heute wieder, wie stark trotz aller Gegensätze das Band gemeinsamer Werte ist, das die Träger des Heilswissens und des Bildungswissens aneinander bindet.

Die zeitweilige Verselbständigung der „Religion der Freiheit“ gegenüber dem Christentum muß also systematisch unter dem Doppelaspekt der Wechselbeziehung von Autorität und Freiheit, von geistlichem und weltlichem Lehrstand betrachtet werden.

Der Wertverlust vollzieht sich in der Freiheitsreligion durch das Fehlen eines festen Kanons der Inhalte, bis endlich ein leeres, formales Freiheitsprinzip übrigbleibt in einem Autoritätssystem durch das Zurücktreten der, Wertinhalte zugunsten des Grundsatzes rein formalen Gehorsams. Dazu kommt noch die Frage des Verhältnisses zwischen dem Klerus und dem aus ihm hervorgegangenen weltlichen Bildungsstand. Diese „freischwebende" Intelligenzschicht ist mit keiner sozialen Großgruppe fest verbunden und hält bald mit der einen, bald mit der anderen engere oder losere Fühlung. Eine solche Stellung bringt die reichsten Möglichkeiten schöpferischer oder anregender Wirksamkeit mit sich, aber auch die Gefahr der völligen Auflösung der inneren Gruppenbindung, des Verlustes der ethischen Gehalte und damit auch des äußeren Einflusses, ja endlich der Freiheit. Das Ergebnis ist im letzteren Falle ein wissenschaftlich-technisches Fachbeamtentum, das, alles Eigenwillens beraubt, jedem als wertneutrales Mittel beliebig zur Verfügung steht.

Die Gesamtentwicklung enthält auch für die Kirche gewisse Gefahren. Die in der Renaissance vielleicht manchmal zu große Nachgiebigkeit gegenüber der weltlichen Kultur hat seit der Gegenreformation einer Flaltung Platz gemacht, die man von einer gewissen Verantwortlichkeit für die Entfremdung von Kirche und Bildungsschicht nicht freisprechen kann. Mit dem Entstehen des modernen Machtstaates unter den Barockherrschern entwickeln sich zudem straffe, an der Auseinandersetzung mit der neuen politischen und geistigen Lage orientierte Formen kirchlicher Organisation. Das Ideal der Geschlossenheit und Schlagkraft erfordert die Betonung formaler Disziplin und zweckbercchncten Handelns, wobei eine Beeinträchtigung der Wertgehalte nicht immer vermieden werden kann. Dadurch verschmälert sich gerade die gemeinsame Basis der geistigen Führungsschichten, so daß unter den weltlichen Bildungsträgern aus ihrem Standesgedanken der Geistesfreiheit zeitweise eine „Religion der Freiheit" entstehen konnte.

So kann uns die Auseinandersetzung mit Croces Werk die Einsicht bieten, daß die einseitige Überbetonung des Freiheits- und Autoritätsprinzips, die geistig-soziale Selbstauflösung und die engsinnige Selbstbewahrung letztlich zu dem gleichen Wertverlust führen.

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