6548518-1947_29_03.jpg
Digital In Arbeit

Republik Italien

Werbung
Werbung
Werbung

Während die Verfassungen des 19. Jahrhunderts meist Kompromißlösungen zwischen monarchischer Staatsrührung und parlamentarischem Regime darstellten, hat die Weimarer Verfassung eine republikanisch-parlamentarische Entwicklung eingeleitet, die trotz mancher Rückschläge die Oberhand zu gewinnen sdieint über den im vorigen Jahrhundert erkämpften Typus. Das bestätigt auch der Entwurf der neuen italienischen Verfassung, die schon deshalb Beachtung verdient.

Geboren aus der jüngsten, stürmisch bewegten politischen Entwicklung des Landes, soll die neue Verfassung vor allem den Volksentscheid vom 2. Juni 1946 für die republikanische Staatsform fest verankern. Darüber hinaus kommt dem Projekt internationale Bedeutung zu, weil es gewisse idealtypisdie Verfassungsprinzipien enthält. Die auf dem Monte Citorio eingesetzte „Kommission der 75“ folgte bei ihren Redaktionsarbeiten der analytisch-synthetischen Methode, so daß es gestattet ist, auch diese Erörterung der Gliederung des Entwurfes anzupassen.

Das Projekt enthält 131 Artikel, ist also ein verhältnismäßig kurzer Gesetzentwurf, und gliedert sich in zwei Teile: „Rechte und Pflichten der Bürger“ und „Aufbau der Republik“, denen allgemeine grundrechtliche Sätze vorangehen. Gleich im Artikel 5, noch im Rahmen der allgemeinen Dispositionen, wird das Verhältnis zwischen Kirche vnd Staat behandelt und erklärt, daß es auf der Grundlage der Lateranverträge des Jahres 1929 beruhe. Für die Annahme dieses Artikels stimmten in der Spezialdebatte auch die Kommunisten, während die sozialistisdien Linksextremisten Pietro Nennis sich d a-gegen aussprachen, obwohl doch keine Partei Italiens die Tatsache ignorieren kann, daß das Land und seine Menschen im Lauf einer jahrtausendealten Geschichte zutiefst in Tradition und Lehre der katholischen Kirche verwurzelt sind.

Die Untertitel des ersten Teiles legen im wesentlichen die bürgerlichen Grundrechte fest, ähnlich wie im österreichischen Staatsgrundg'esetz von 1862, beziehungsweise 1867. Diese Artikel, die eingedenk der zwanzigjährigen Periode totalitärer Herrschaft sehr eingehend und präzise gehalten sind, beschränken sich nicht auf die bekannten, in der französischen Präambel von 1789 zum Ausdruck gebrachten Prinzipien. Die Vorschläge von Mounier und De Menthon im letztjährigen französischen Entwurf aufnehmend und auf Gedankengängen basierend, die teilweise bereits in den Verfassungen der Türkei 1928, Rußlands 1936 und Irlands 1937 aufscheinen, werden in das Projekt auch soziale Grundrechte eingebaut, so das Recht auf Arbeit, auf Erholung, auf gerechte Entlohnung, auf Gleichstellung der arbeitenden Frau, auf Unterstützung bei Unfall, Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit und auf Streik. Besonders der letzte Gedanke stellt ein verfassungsrechtliches Novum dar. Die Ausübung dieser Rechte soll freilich im Rahmen der Gesamtheit und für die Gesamtheit geschehen. Damit wird den Gedanken Renards und Mirkine-Grützewitschs beigepflichtet, die der letztere in seinem Werke: „Les nouvelles tendances du droit constitutione!“ festgelegt hat. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang das Kapitel über die Familie. In ihm sollte die Unauflöslichkeit der Ehe verfassungsmäßig anerkannt werden. Die Allianz aller Linksparteien mit den groß-bürgerlidien Liberalen brachte jedoch diesen so wichtigen Grundsatz zu Fall, hingegen wurde der Grundsatz der „freien Schul e“, der die Gleichberechtigung der konfessionellen und der staatlichen Schule ausdrücklich festlegt, ohne große Schwierigkeiten angenommen — ein Zeichen, daß der Umfall bei der Abstimmung über das Eheprinzip auch einem Teil der führenden Mehrheitspartei, der Democristiani, zuzuschreiben war.

Die Struktur des Staates, seine Organisation und Funktionen werden im zweiten Teil geklärt. Italien wird darin als parlamentarische Demokratie definiert. Die „Suprema Potestas“ gründe sich ..im Volk, durch da Volk und mit dem Volke“. Die Wirkungen der Volkssouveränität werden aber nicht im Sinne einer Regierung der Nationalversammlung, des Parlaments, verstanden, von der schon Proudhon sagte, daß sie nidn weniger als die Despotie zu fürditen ist, sondern Italien soll eine Repräsentativdemokratie werden, in der den gewählten Volksvertretern lediglich die Gesetzgebung und die Kontrolle der Vollziehung zukommt. Das Staatsoberhaupt hat vor allem die Funktion des Hüters der Verfassung. Das Volk selbst greift in die Geschicke des Landes ein durch die Wahl der Abgeordneten, aber auch durch Referendum und Volksbegehren. Immerhin wird die seit Montesquieu als Garantie der Bürgerfreiheit geltende „Trennung der Gewalten“ auch in der italienischen Verfassung, ähnlich wie in der österreichischen, nicht konsequent durchgeführt; auch hier gibt es Übersdineidungcn der Legislative und der Exekutive zugunsten der ersteren, allerdings nur in bestimmten, genau abgegrenzten Fällen.

Da5 Parlament ist das Organ der Legislative; es beruht auf dem Zweikammernsystem. Beide Kammern, Abgeordnetenhaus und Senat, sind gleidibercchtigt. Die zweite Kammer wird nicht, wie in Österreich, zu einem bloßen Reflexionsinstrument, sondern erhält die gleiche Funktion. Das Abgeordnetenhaus wird nadi den allenthalben üblichen Grundsätzen gewählt, die Wahl des Senats erfolgt jedoch auf regionaler Basis. Zwischen dem amerikanischen Vorbild (gleiche Zahl der Sitze der einzelnen Staaten ohne Rücksicht auf Volkszahl, und dem österreichisdien (Abstufung nach der Volkszahl) sucht man einen Mittelweg: jeder Region wird die feste Zahl von fünf Senatoren zugeteilt, darüber hinaus erhält sie auf je 200.000 (und Teilzahlen über 100.000) einen weiteren Senatorensitz. Die passive Wählbarkeit in den Senat wird außer den üblichen Bedingungen an besondere das Alter, Auszeichnungen für Tapferkeit, Verdienste u. a. betreffende Merkmale gebunden. Unterschiedlich von der österreichischen Verfassung kommt das Enqueterecht beiden Häusern zu. Beide kennen die Einrichtungen der Interpellationen und Resolutionen. Beide Häuser vereinigt bilden die Nationalversammlung, der die Entscheidung über Krieg und Frieden, Erteilung einer Amnestie und — die Verhängung des formellen Mißtrauensvotums obliegen, das die Regierung zum Rücktritt zwingt. Verstärkt durch die Präsidenten der Regionalräte („Landtage“) und der Regionaldeputationen („Landesregierungen“), wählt sie das Staatsoberhaupt.

Die Funktionselemente der vollziehenden Gewalt gliedern sich in Staatsoberhaupt, Regierung und Gerichtswesen. Dem Staatsoberhaupt kommen die allgemein vorgesehenen Redite zu, vor allem die Auflösung der beiden Kammern, die es nach bloßer Anhörung der Kammerpräsidenten durchführen kann, sowie die Berufung des Ministerpräsidenten. Dieser bildet und leitet die Regierung; er ist also nicht „primuj inter pares“, nidit bloßer Vorsitzender des Ministerkollegiums, sondern Chef der Regierung. Im übrigen gilt nur in gewissen Fällen das Kollegialsystem, vorwiegend jedoch das monokratische Prinzip, das besonders in Ressortfragen zum Ausdruck kommt.

Besondere Aufmerksamkeit verdient das System des Regionalismus. Von den vier möglidien staatsrechtlichen Lösungen — Föderalismus, Regionalismus und den Zwischentypen der bürokratisdien und institutionellen Dezentralisation — hat sich Italien für die zweite entsdiieden. Danach wird der Staat in historich und geographisch geschlossene Landschaftseinheiten — die Regionen — aufgegliedert, zun. Beispiel Lombardei, Piemont, Ligurien. Ähnlich der österreichischen Verfassung wird der Region ein äußerlich unserem Landtag entsprechende Abgeordnetenversammlung und eine unserer Landesregierung vergleichbare Regionaldeputation zugestanden. Der Regionalstaat unterscheidet sich vom Föderalstaat vor allem durch das Prinzip der Souveränität. Beim Bundestaat gilt als historisches oder theoretisches Prinzip der freiwillige Zusammenschluß mehrerer souveräner Unterverbände zum Oberverband. Die Stärke dieser Bindung liegt im Willen der Vertragschließenden, der freilich nicht ohne weiteres im negativen Sinne sich geltend machen kann. Die tatsächliche Entwicklung der bestehenden Bundesstaaten kennt ebenso oft die Ausgliederung wie den Zusammenschluß. Verschieden ist bei diesen auch das Maß der den Gliedstaaten verbleibenden oder zuerkannten Souveränität. Im Regionalstaat nun schafft der Oberverband die Untergliederung, über deren verfassungsmäßige Rechte und Bindungen er allein entscheidet. Die Region war und ist niemals souverän. Sohin wahrt die regionale Aufgliederung weitgehend die Staatseinheit. Gegen die Einführung des regionalen Systems in Italien wenden sich vor allem die linksextremen Parteien und die äußerste Rechte, deren unnachgiebiges Verhalten in dieser Frage durch einen Ultranationalismus ständig genährt wird. Die Klärung dieses Problems ist eine der lebenswichtigsten Fragen der neuen Verfassung.

Als verfassungsrechtlidre Garantie wird — für Italien eine völlige Neueinführung — ein Verfassungsgerichtshof ein-geriditet. Er entscheidet über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verwaltungsakten sowie über Kompetenzkonflikte zwisdien Staat und Region und zwischen den Regionen untereinander. In diesem Zusammenhang verdienen noch Erwähnung der Rechnungshof, der Nationale Wirtschaftsrat, ein Beratungsorgan des Parlaments und der Regierung in wirtschaftlichen Fragen, schließlich der Staatsrat als juristisch-administratives Organ, der vor allem in Fragen der Gerechtigkeit bei Verwaltungsakten eingreifen soll. Das Verhältnis zwischen Staatsrat und Verfaseung-gerichtshof ist bisher nicht klar genug abgegrenzt, so daß hier schwierige Kompetenzkonflikte vorherzusehen lind.

Noch in dieser Parlamentssession, die rn diesem Zweck verlängert wurde, soll die neue Verfassung zum Beschluß erhoben werden. Die Annahme erscheint nach Überwindung der größten ideologischen Schwierigkeiten in den wesentlichen Punkten gesichert. Von der Proklamation der Verfassungsproklamation erhofft sich Italien die Stabilisierung seiner innerpolitischen Verhältnisse, die Befestigung der Rechtsordnung, mit der eine sittliche Wiederbesinnung Hand in Hand zu gehen hätte, und damit eine zunehmende Erstarkung des Staates und seiner Regierung in den vitalen Fragen der äußeren Politik.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung