„Ressentiments überraschten“

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Der Historiker Oliver Rathkolb über die Triebfedern der Revolutionen 1989, die fatalen Schwächen des kommunistischen Systems und die in Ost und West konservierten Vorurteile aus der Zeit der Monarchie. Das Gespräch führte Oliver Tanzer

Der Historiker Oliver Rathkolb vom Institut für Zeitgeschichte zieht im FURCHE-Gespräch eine kritische Bilanz der Geschehnisse des Jahres 1989.

Die Furche: Was ist für Sie das frappierendste Ereignis des Jahres 1989?

Oliver Rathkolb: Das Frappierendste ist, dass bis zum Dezember 1989 die klassische Politik in Europa und den USA den Ereignissen immer hinterherhinkt. Es ist eine gesellschaftliche Dynamik, die weder im Osten noch im Westen zu kontrollieren ist. Man sieht das deutlich an Dokumenten und Akten der Bush-Senior-Administration, wie man in den Entwicklungen teilweise hilflos herumtappt. Auf der anderen Seite steht Gorbatschow, der ein Fantasma eines Hauses Europa entwickelt und von der Reformmöglichkeit seines Systems überzeugt ist.

Die Furche: Wie sieht das der Westen? Es gibt ein Dokument des BND an die Regierung Kohl, in dem vor dem Reformkonzept der Demonstranten gewarnt wird. Hat das zur Beschleunigung der Wiedervereinigungspläne beigetragen?

Rathkolb: Das hängt mit zwei Dingen zusammen. Das eine ist die Sorge, die Massenbewegung könnte nicht mehr zu stoppen sein und dass es unter Umständen auch zu einer politischen Linksfärbung in der BRD kommt. Das zweite ist die Sorge, dass es zu einer Massenmigration kommt, welche die BRD vollkommen überlastet hätte. Erstaunlich ist, dass die internationale Politik bei der Wiedervereinigung mitgemacht hat. Vor allem Maggie Thatcher, die eine extrem reservierte Haltung gegenüber den Deutschen hatte. Kohls Glück war, dass die USA seinen Plan mittrugen.

Die Furche: Mit welchem Ziel hat US-Präsident Bush das getan?

Rathkolb: Ein zentrales Ziel der USA war es, Deutschland als Teil der NATO zu erhalten. Es war ja keineswegs klar, ob ein wiedervereinigtes Deutschland nicht bündnisfrei sein müsse. Deutschlands NATO-Mitgliedschaft wurde den Franzosen und Briten als Möglichkeit zur Kontrolle Deutschlands verkauft. Zweiter Punkt: die BRD war eine Cashcow, die viel Geld an die UdSSR und später Russland gab, was stabilisierend wirkte.

Die Furche: Wäre ein ähnlicher Weg wie in China, also wirtschaftliche Öffnung ohne politische Freiheit, für die UdSSR denkbar gewesen?

Rathkolb: Theoretisch ja, praktisch nein. Die Entspannungspolitik der 70er Jahre hatte die autoritären Strukturen in Moskau erodiert. Das war in China nicht der Fall. Hinzu kam eine ökonomische Krise. Das Versagen der Planwirtschaft ist für mich das zentrale Element der Erosion der DDR und der UdSSR. Der Wettstreit der Systeme geht skurrilerweise aufgrund der Krise des Kapitalismus in den 70er Jahren (Ölpreisschocks, Anm.) für den Kommunismus schlecht aus. Ein Indikator dafür ist der Ost-West-Handel, der in den 60er Jahren stark zunimmt. Aufgrund steigender Erdölpreise sinkt er in den 70er Jahren aber drastisch, dem Osten fehlt nun plötzlich das Kapital. Weil die USA danach auch noch jeden Technologietransfer unterbinden, kann Russland nicht mehr mithalten.

Die Furche: Eine Form Kreativer Zerstörung durch das Vorenthalten technischer Entwicklung?

Rathkolb: Ein treffender Begriff. Im Fall des Kommmunismus gibt es eine ökonomische und eine kulturelle Form der Zerstörung, nämlich im Jugendbereich. Es gelingt den Regimes nicht, die globale Jugendkultur zu kontrollieren. Das fördert den späteren Widerstand der Jugend 1989, die entscheidend zum Gelingen der Revolution beiträgt.

Die Furche: In der DDR herrschte damals auch Führungs-Chaos. Konnten Honecker/Krenz ohne Anweisungen aus Moskau nicht überleben?

Rathkolb: Es gibt dazu ein bezeichnendes Zitat aus einem Gespräch zwischen Krenz und Gorbatschow. Krenz fleht Gorbatschow an, die DDR wieder anzunehmen: Die DDR sei gewissermaßen das Kind der Sowjetunion, und die Vaterschaft über seine Kinder müsse man anerkennen. Gorbatschow antwortet, es sei an der Zeit, dass die Kinder das Haus verlassen und selbstständig werden. Das war das Ende für die DDR.

Die Furche: In DDR und CSSR gab es eine massive Volksbewegung. Nicht so in anderen Staaten. In Ungarn etwa, das am Freitag 20 Jahre Demokratie feiert, haben das die sozialistischen Funktionäre allein gemacht.

Rathkolb: Ungarn wurde eigentlich schon seit den 60er Jahren von der Weltbank wirtschaftlich über Wasser gehalten. Die ökonomische Öffnung war also in Grundzügen bereits da. Der Abbau des Eisernen Vorhanges geht dann auf das Verhandlungsgeschick der ungarischen Funktionäre zurück. Sie sind nach Moskau gefahren und haben gesagt, der Zaun ist kaputt, wenn ihr einen neuen wollt, müsst ihr uns einen bauen oder uns das Geld geben, damit wir das Material im Westen kaufen können. Moskau konnte nicht zahlen, also haben sie den Zaun abgebaut.

Die Furche: Sie selbst sind an der Grenze im Waldviertel aufgewachsen. Wie haben Sie 1989 erlebt?

Rathkolb: Ich war damals in Wien und selbst überrascht von den Ereignissen. Wir haben dann ein grenzüberschreitendes Ausstellungsprojekt „Kulturen an der Grenze“ organisiert. Dabei haben wir auch Interviews in der Region gemacht und gemerkt, wie groß die Ressentiments unter den Volksgruppen sind. Irgendwie sind da die Vorurteile der Monarchie konserviert worden. Viele Tschechen empfanden die Österreicher als Herrenmenschen. Die Österreicher glaubten an die böhmische Hinterlist. Als der Fußballtrainer Karel Brückner bei uns kurz erfolgreich war, schrieben Prager Zeitungen: „Jetzt haben wir es den Österreichern gezeigt, jetzt liefern wir ihnen nicht mehr Dienstboten, sondern einen Startrainer.“

Die Furche: Gibt es Hoffnung auf Änderung?

Rathkolb: Es dauert noch. Die Jungen sind wesentlich aufgeschlossener. Es wird besser werden, wenn die Mauerfallkinder zu politischen Entscheidungsträgern werden.

Am 9. 11. um 19 Uhr wird Oliver Rathkolb zum Thema „Europa und das Ende des kalten Krieges“ vortragen. Altes Rathaus Wipplingerstraße 6–8, 1010 Wien.

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