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Rette sich, wer kann?

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Die in Kopenhagen vielbeschworene Solidarität nennt auch der Papst in seinen Sozialenzykliken als Weg zur Lösung der sozialen Probleme.

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Die in Kopenhagen vielbeschworene Solidarität nennt auch der Papst in seinen Sozialenzykliken als Weg zur Lösung der sozialen Probleme.

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Beim Weltgipfel für soziale Entwicklung in Kopenhagen wird viel von Solidarität gesprochen. Der Papst bezeichnet sie als eine Tugend, als die „feste und beständige Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen”. Sie gilt als eines der drei Grundprinzipien der katholischen Soziallehre.

Andererseits zeigen sozialpsychologische Untersuchungen eine steigende Entsolidarisierung. Paul M. Zulehner spricht von einer „postsolidarischen” Gesellschaft und schreibt: „90 Prozent der Menschen erweisen sich somit als von dieser Privatisierung von Glück und Unglück mehr oder weniger erfaßt ... Viele Anzeichen weisen nun darauf hin, daß es für eine solidarische Politik kaum noch Mehrheiten gibt” (Ein Obdach der Seele, S. 68 f.). Wir haben es in Österreich bei der Diskussion um das Sparpaket deutlich erlebt.

Was bedeutet also Solidarität? Kann sie wirklich die sozialen Probleme lösen? Dazu einige Überlegungen: Solidarität bedeutet von ihrem Begriff her den Einsatz für eine Ganzheit oder Einheit, hier eben für das Gemeinwohl: „Wir sitzen alle in einem Boot.” Dieses Verständnis läßt völlig offen, aus welchen Motiven dem einzelnen das Gemeinwohl wichtig ist. Es können durchaus egoistische Beweggründe sein: Weil wir einander brauchen, weil auch ich den oder die anderen einmal -brauchen könnte. Es ist das nichts anderes als ein „verschränkter Egoismus auf Gegenseitigkeit”. In diesem Sinn ist selbst die Mafia solidarisch.

Aber auch in einer indirekten -nicht so individualistischen - Form kann die Solidarität egoistisch sein: in der Einordnung in ein größeres Ganzes (Volk, Nation, Rasse, Klasse, Kollektiv), von dem ich mein Heil erwarte. Das kann auch ein bedingungsloser Einsatz sein, gelegentlich sogar unter dem Deckmantel von Religion, und ist doch nur ein Gruppenegoismus, der oft von Feindbildern lebt und natürlich nicht die gerechte soziale Ordnung im Zusammenleben mit den anderen Gruppen finden kann.

Eine solche egozentrisch motivierte Solidarität wird hier eine „bloße” Solidarität genannt, weil sie dem Wortsinn dieses Begriffs zwar durchaus gerecht wird (also nicht mehr damit gemeint sein muß), aber gerade nicht als Prinzip zur Lösung der brennenden sozialen Probleme genügen kann. Denn diese bloße Solidarität gilt überhaupt nur in der eigenen Gruppe (sobald sie für alle Menschen gelten soll, bringt sie dieser keinen Vorteil mehr) und hört auch dort auf, sobald der einzelne von den anderen oder vom Zusammenhalt in der Gruppe nichts mehr zu erwarten hat oder meint, auf sie nicht mehr angewiesen zu sein.

Noch früher stößt sie an ihre Grenze, wo die zu verteilenden Güter wirklich oder nur vermeintlich (wobei die Ängste des Menschen ihn blind machen können) nicht mehr für alle reichen. Dann tritt an die Stelle des Prinzips „Wir sitzen alle in einem Boot” die Devise, die der Kapitän eines untergehenden Schiffes ausgibt, wenn eine geordnete Rettung aller nicht mehr möglich ist: „Rette sich, wer kann.”

Das scheint heute bewußt oder unbewußt der Grundsatz vieler Menschen oder Gruppen zu sein. Dabei spielt die drohende Überbevölkerung der Erde sicher eine große Rolle. Aber selbst wenn die Güter dieser Erde bei idealer Verteilung noch für alle oder sogar für mehr Menschen reichen würden, läßt sich mit der bloßen Solidarität nicht begründen, warum die reicheren Völker oder

Menschen sich einschränken oder verzichten sollen, wenn sie ihren Reichtum auch auf andere Weise (durch Waffengewalt) verteidigen können. Außerdem müssen sie mit der Möglichkeit rechnen, daß auch die ärmeren Völker beziehungsweise Menschen sie an die Wand spielen oder ausbeuten (wie sie es derzeit machen), wenn jene an mehr Besitz und damit an mehr Macht kommen.

Es braucht also mehr als die bloße Solidarität: Es braucht das Wichtignehmen der anderen und der Gemeinschaft mit ihnen um ihrer selbst willen, das, was die Bibel Liebe nennt. Auch wenn dieses Wort vielfach mißbraucht wurde und wird und mißverstanden werden kann, läßt es sich durch Solidarität nicht ersetzen, es sei denn, man sagt jedesmal „Solidarität aus Liebe” oder „liebende Solidarität”. Zum Teil wurde hier in der Kirche eine falsche Anpassung an die Welt versucht, zum Teil aber liegt auch der katholischen Soziallehre ein ungenügender Personenbegriff zugrunde, der den einzelnen über die Gemeinschaft stellt und diese generell nur subsidiär für die Selbstverwirklichung der einzelnen sieht.

Darin besteht die sogenannte „physische Konzeption” der Liebe, die den anderen nur im Bückbezug auf das eigene Ich liebt (weshalb Thomas von Aquin ausdrücklich sagt, daß jeder sich selbst mehr lieben soll als den anderen, da er den anderen nur liebt, weil er ihm ähnlich ist, das Abbild aber weniger wert ist als das Urbild). Auf einem so begründeten „Jeder ist sich selbst der Nächste” läßt sich keine Soziallehre aufbauen. Dennoch soll hier keineswegs das andere Extrem der sogenannten „ekstatischen Konzeption” der Liebe (der Franziskanerschule), also der reinen Selbstlosigkeit, die sich dem anderen unterordnet oder ausliefert, vertreten werden.

Die Synthese ist ein relationaler Personenbegriff, der den Menschen gleich ursprünglich als Einzelwesen und als Gemeinschaftswesen versteht, Beziehung also nicht nur als Folge der Endlichkeit sieht, sondern als ebenso grundlegend und wichtig wie das Selbstsein des einzelnen. Dann stehen der einzelne und die Gemeinschaft auf gleicher Ebene. Das entspricht dem eigentlich christlichen Gottes- und Menschenbild, nach dem Gott in sich schon Beziehung ist (als schenkende, empfangende und teilende Liebe), weshalb Beziehung unter uns Menschen nicht nur aus der Begrenztheit des Geschöpfs entsteht, sondern zu seinem tiefsten Wesen gehört.

Die so verstandene Liebe entspricht nicht einem „Bedürfnis” des Menschen im ursprünglichen Sinn dieses Wortes. Sie erfordert Hingabe, unter Umständen auch des eigenen Lebens, wenn das Überleben des anderen wichtiger ist als das eigene (man ihm oder ihr den Vortritt lassen soll beim Einsteigen in das Rettungsboot, in dem nicht alle Platz haben). Das damit verbundene Sterben-Können setzt eine Umkehr voraus, ist mit ichbezogenen Vernunftgründen nicht zu motivieren. Diese ist solange nicht möglich, als der Mensch eigenmächtig seinem Leben Sinn geben will.

Daher hat die soziale Ordnung etwas mit dem Glauben zu tun. Dazu sollten wir Christen uns durchaus bekennen und beginnen, unter uns -nicht auf, aber in Gegenseitigkeit -eine gerechte soziale Ordnung zu verwirklichen (nicht nur eine Sozial-lehre an die Welt zu richten). Dann besteht die Chance, daß wir durch unser Beispiel und Wirken wie ein Sauerteig andere bekehren können: von der bloßen Solidarität zur Liebe, in der sich erst die Sozialfragen lösen.

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