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„Revolution der Enttäuschung und des Verlustes”

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Die diesjährigen Salzburger Hochschulwochen (siehe auch Furche 29, Seite 4) sind zu Ende. Zur Halbzeit überraschte der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski mit eigenartigen Gedanken.

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Die diesjährigen Salzburger Hochschulwochen (siehe auch Furche 29, Seite 4) sind zu Ende. Zur Halbzeit überraschte der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski mit eigenartigen Gedanken.

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Dort, wo es keine Demokratie gibt, kann es keinen Pluralismus geben, aber dort, wo der volle Pluralismus besteht, verliert die Demokratie an Effektivität”, meinte der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski in seinem Festvortrag zur Halbzeit der Salzburger Hochschulwochen 1995.

Wäre das Leben wirklich einfacher, lebenswerter, wenn es wieder eine Hierarchie gäbe, die dem einzeihen Menschen klare Lebenswege vorzeichnete? Nachdenklich Stimmendes auch zum Thema „Integration”.

„Die große Revolution, die im Osten Europas vor einigen Jahren anfing, bringt Früchte der Müdigkeit, der Enttäuschung und der unruhigen Sehnsüchte mit sich. Zum ersten Mal erlebt Europa eine Revolution der Enttäuschung und des Verlustes.”

Das Gespenst des großen Zweifels

Der polnische Schriftsteller ist für seine Werke wie etwa „Die Stunde Null”, „Eine Messe für die Stadt Ar-ras” oder „Die schöne Frau Seidenmann” bekannt.

Beim Festakt der Hochschulwochen sprach Szczypiorski über die geistige Krise, in die Europa nach der Euphorie der Revolution im Osten geraten sei. Unter dem Thema „Ost und West. Die Zukunft Europas” malte Szczypiorski ein ernüchterndes Bild des „Hauses Europa”.

In Europa gehe das „Gespenst des großen Zweifels” um. Denn der „Untergang der Sowjets und das Ende der kommunistischen Gefahr sollten Mut einflößen und die noch bis vor kurzem allgemeine Überzeugung bestätigen, daß der Westen

recht hätte, und daß die Zukunft ihm gehöre”. Aber neue Fragen quälten die neuen Europäer: „Was ist, wenn der Westen doch nicht recht hatte? Wenn der Westen nicht recht hat, wer dann?”

Da niemand in Europa bezweifeln würde, daß der Kommunismus unrecht hatte, folge, so Szczypiorski, die bange Frage: Gibt es vielleicht gar kein Recht?”

Wenn dem so sei, dann habe auch das Gedankengut der Aufklärung keinen Wert und Europa schon vor 200 Jahren eine falsche Richtung gewählt. Hat die ausgediente „Dampfmaschine der Aufklärung” nach zwei Jahrhunderten nützlicher, störungsloser Arbeit vor unseren Augen und mit unserer Beteiligung angehalten?

Hinter diesem düsteren Bild der Zukunft ortet der polnische Schriftsteller das „Begehren nach Veränderung”: „Im satten Deutschland, in Frankreich oder in Skandinavien herrscht die Atmosphäre des Ab-wartens auf etwas nicht Genanntes und Geheimnisvolles, was die Schicksale der einzelnen Menschten und der ganzen Gesellschaften verändert.”

Verliert die Demokratie in pluralistischen Gesellschaften wirklich ihre Effektivität?

Laut Andrzej Szczypiorski stellen die Menschen sich heute die Frage, „ob in der Welt einer so unfaßbaren und ungeordneten Vielfalt, in der jede Meinung berechtigt ist und durch elektronische Medien verbreitet wird - ohne Rücksicht auf die Hierarchie ihres Wertes - eine wirksame Demokratie überhaupt bestehen kann”.

Die Menschen würden sich nicht imstande fühlen, ununterbrochen Entscheidungen zu treffen; aber der Überfluß an Informationen, Meinungen, Urteilen, Visionen, Irrtümern und sogar Erfolgen zwinge sie dazu. Dadurch kämen immer mehr Menschen zu der Überzeugung, daß etwa „zwei Fernsehkanäle besser wären als hundert”.

Das Leben wäre dann einfacher und würde nicht eine solche geistige Anstrengung erfordern.

Szczypiorski ortete eine „Sehnsucht nach einem klugen Herrscher”, die unaufklärerische Sehnsucht nach einer idealen absoluten Monarchie.

„Die parlamentarische Demokratie und die freie Marktwirtschaft, diese zwei mächtigen Pfeiler der Welt der Vernunft bieten keine Garantie des ruhigen Schlafes mehr für das immer größere Heer von Zweifelnden, Enttäuschten und Verbitterten.”

Auch das Bedürfnis nach europäischer Integration sei in Frage gestellt, wecke Angst. Aber nicht nur, weil die „Reicheren zum Aufstieg der Ärmeren werden zuzahlen müssen”, sondern auch aus der Befürchtung heraus, die nationale Identität einzubüßen.

Viele halten Integration für „Unifizierung”

Die Geschichte habe gezeigt, daß die Demokratie dort am besten funktionierte, wo „die Vielfalt begrenzt war, wie im alten England des parlamentarischen zwei Parteien-Systems, wie im alten, liberalen Europa, wo die Nutzung der demokratischen Einrichtungen durch den Zensus der Ausbildung, der sozialen Herkunft und des Vermögens sehr begrenzt war. Wahrlich, wir leben in düsteren Zeiten, wenn sich sogar die Schriftsteller nach der guten alten Klassengesellschaft zurückzusehnen scheinen.

Vor dem Fall der Sowjets sei die Einheit der freien Welt, so Szczypiorski, eine Notwendigkeit gewesen. Nun gebe es keine „kommunistische Gefahr” mehr, und plötzlich erweise sich die Einheit als längst nicht mehr so unentbehrlich wie gestern.

Die Integration werde mehr durch die Euro-Bürokratie benötigt als von den Völkern ersehnt. Denn noch immer setzen viele Integration mit Unifizierung gleich, aber Unifizierung sei der Natur des Menschen fremd.

„Nur die Fernsehwerbung stellt uns wie Spaßvögel-Halbidioten dar, die die gleichen Banalitäten erzählen, die gleichen Dinge begehren, auf die gleiche Weise denken und aus den gleichen Gründen glücklich sind.”

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