Polen Ukraine - © Foto: Getty Images / NurPhoto / Artur Widak

Róża Thun: „Kapieren, das ist unser Krieg“

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Der imperialistische Appetit Russlands gehöre mit allen Mittel ein für alle Mal gestoppt, fordert die frühere polnische Dissidentin Róża Thun.

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Der imperialistische Appetit Russlands gehöre mit allen Mittel ein für alle Mal gestoppt, fordert die frühere polnische Dissidentin Róża Thun.

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Verheiratet mit einem Deutschen, lebt die liberale EU-Abgeordnete Róża Maria Gräfin von Thun und Hohenstein die polnisch-deutsche Versöhnung in der eigenen Familie. Seit Ende der 1970er-Jahre war die 1954 in Krakau geborene katholische Publizistin in der Solidarność-Bewegung aktiv.

DIE FURCHE: Frau Abgeordnete, wie hat Sie dieser Krieg verändert?
Róża Thun:
Es gibt viele Kriege auf der Welt, von denen wir wissen, aber so real war mir noch kein Krieg. Ich empfinde ihn als meinen, als unseren Krieg. Und ich leide darunter. Wir spüren diesen Krieg wie keinen anderen. Wir teilen mit den vielen Flüchtlingen die Sorge, ob ihre Verwandten in der Ukraine noch leben. So wie ich haben viele Polen ihre Wurzeln dort. Unsere Vorfahren stammen oft von dort, wo jetzt die Bomben fallen. Wenn ich nach Brüssel oder Straßburg komme, ist es den Menschen oft nicht klar, dass das unser Krieg ist.

DIE FURCHE: Weil mit der Entfernung das Zusammengehörigkeitsgefühl abnimmt?
Thun:
Ich verstehe, dass für Westeuropäer dieser Krieg weit weg ist, und ich bewundere jene, die sich engagieren, obwohl die Ukraine für sie ein fremdes Land ist. Aber dieser Krieg betrifft uns alle. Jetzt und noch lange. Das Verhalten Russlands hat sich seit der Stalinzeit nicht geändert: Exekutionen, Verschleppungen… Das kommt in Wellen, und der imperialistische Appetit Russlands hört nicht auf. Wir müssen uns noch mehr engagieren – nicht nur weil uns die Ukrainer nah sind, sondern weil wir den russischen Imperialismus stoppen müssen. Jetzt tun das die Ukrainer heldenhaft für uns alle. Wir müssen kapieren, dass das unser aller Krieg ist, dass es auch um unsere Zukunft geht, dass wir die Russen ein für alle Mal stoppen müssen.

DIE FURCHE: Wie soll das gehen?
Thun:
Zuerst müssen wir die Ukrainer unterstützen, damit sie den Krieg gewinnen. Dann braucht es ein Embargo auf Energie aus Russland, das über den Krieg hinaus fortgesetzt gehört. Das wird uns sehr viel Geld kosten, aber das müssen wir tragen.

DIE FURCHE: Sind die Europäer dazu bereit?
Thun:
Ich bin bereit, sehr viel zu tragen, und ich möchte, dass wir alle dazu bereit sind.

DIE FURCHE: Sie waren vor 40 Jahren Teil der polnischen SolidarnośćBewegung, glauben Sie wirklich, dass heute eine europaweite SolidaritätsBewegung mit der Ukraine lange möglich ist?
Thun:
Die geopolitische Lage hat sich mit diesem Krieg völlig geändert. Ich wiederhole mich: Es geht hier nicht nur um die Ukraine, es geht um uns. Wir müssen trotz aller damit verbundenen Kosten und Schwierigkeiten den Kampf gegen den russischen Imperialismus führen und gewinnen. Ich weine vor Rührung, wenn die Ukrainer die EU-Fahne in ihr Parlament tragen. Es ist extrem wichtig, dass sie in die EU kommen oder zumindest sehr nahe. Es gab ein Präludium zu diesem Krieg, als Lukaschenko in Belarus die wunderschöne, friedliche Revolution, mit Gesang und Blumen auf die blutigste Art niedergeschlagen hat. Wir müssen auch Lukaschenko loswerden, Belarus gehört genauso in die EU.

DIE FURCHE: Ist die EU stark genug, um so große Erweiterungen zu meistern?
Thun:
Als Polen der EU beigetreten ist, war es unsere große Ambition, Botschafter für die Ukraine zu sein, sie näher an die EU heranzubringen. Heute höre ich von Kollegen, und das ist auch meine große Sorge: Jetzt gibt es Präsident Selenskyj in der Ukraine, aber er wird nicht ewig bleiben. Und es kann, wie in Polen, immer ein Kaczyński (Vorsitzender der nationalkonservativen Regierungspartei PiS, Anm.) kommen. Deswegen sind wir Polen ein schlechtes Vorbild, und ich fühle mich dafür verantwortlich. Anstatt die europäische Gemeinschaft zu bauen, schwächen die polnische und ungarische Regierung die EU: Wenn Rechtsstaatlichkeit gebrochen wird, wenn EU-Gesetze nicht geachtet werden. Heute sprechen wir enthusiastisch von den Ukrainern, wie tapfer sie ihr Land verteidigen, wie fantastisch organisiert sie sind, dass sie die Vorbereitungen für den EU-Kandidatenstatus im Krieg geschafft haben. Polen wurde auch so enthusiastisch empfangen, als wir mit Mazowiecki, Geremek und anderen tollen Politikern in die EU kamen. Aber heute spielt die polnische Regierung ein schlechtes Spiel, was in der Zeit des Krieges besonders gefährlich ist.

DIE FURCHE: Zeigt dieser Krieg nicht ein anderes, ein europäischeres Polen?
Thun:
Wir müssen leider immer von zwei Polen sprechen. Es gibt einen Teil, der immer sehr europäisch war und ist. Dieser pro-europäische Teil, zu dem ich gehöre, verlangt sehr viel von den Europäischen Institutionen. Wir wollen, dass sie hart hinter der Rechtsstaatlichkeit in Polen stehen.

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