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Rußland lernt — Osterreich auch?

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Heinrich schneider, Experte für Europa- und Sicherheitspolitik, über die Rolle der NATO in der europäischen Sicherheitsordnung.

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Heinrich schneider, Experte für Europa- und Sicherheitspolitik, über die Rolle der NATO in der europäischen Sicherheitsordnung.

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dieFürche: Demnächst wird das im amerikanischen Dayton paraphierte Abkommen über den Frieden in Bosnien-Herzegowina rechtskräftig unterschrieben Noch weiß man nicht, ob damit der Friede wirklich gesichert ist, aber eines scheint klar zu sein Die NATO hat eine Schlüsselrolle zu übernehmen. Ist sie damit endgültig als bestimmende Sicherheitsorganisation in Europa etabliert?

Heinrich Schneider: Sicher spielt die NATO in den zu befriedenden Gebieten eine Hauptrolle. Die sogenannte „Implementation Force" (IFOR), der Truppenverband, der die Einhaltung des Friedens dort sichern soll, wird unter der politischen Autorität des NATO-Rates und unter dem Kommando eines NATO-Generals stehen. Sie soll Truppenrückzüge der bisher einander bekämpfenden Konfliktparteien überwachen, kann deren militärische Anlagen jederzeit inspizieren und anderes mehr. Im entsprechenden Abkommen steht überdies, daß der NATO-Rat befugt ist, neue und zusätzliche Weisungen für die Tätigkeit von IFOR zu geben, und daß deren Kommandant allein befugt ist, Bestimmungen des Militärabkommens verbindlich auszulegen. Das heißt also: die NATO hat dort tatsächlich das Heft in der Hand, und der Neuaufbau des demokratischen Lebens vollzieht sich unter ihren Augen.

dieFürche: Wie begründet das Verteidigungsbündnis NA TO diesen größten Einsatz in ihrer Geschichte?

Schneider: Schon vor Jahren hat die NATO den Vereinten Naitonen und der KSZE, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, angeboten, für friedenserhaltende Maßnahmen zur Verfügung zu stehen. Sie betrachtet das seit dem Ende des Kalten Krieges als eine ihrer wesentlichen Aufgaben. Die UN haben das Angebot angenommen, übrigens nicht erst jetzt. Auch die Luftangriffe, die schließlich die Serben verhandlungsbereit machten, wurden von der NATO durchgeführt.

dieFürche: Rußland hat doch lange Zeit die Auffassung vertreten, daß mit der Auflösung des Warschauer Paktes das westliche Bündnis keine Existenzberechtigung mehr hat Das zeigt sich ja auch beim Streit um die Osterweiterung der NATO.

Schneider: Rußland hat die Vereinbarungen von Dayton widerwillig akzeptiert, und damit auch die neuen Aufgaben der NATO gebilligt. Was die Osterweiterung betrifft, so sind es die Mittel- und Osteuropäer, die beitreten wollen. In Moskau sieht man das allerdings als Gefährdung der eigenen Sicherheit. Zuweilen war ja sogar davon die Rede, daß die Osterweiterung der NATO zu einem neuen Krieg in Europa führen könnte ...

dieFürche:... das war eine arge Drohung...

Schneider: ... inwieweit man allerdings in Rußland gewillt und fähig wäre, sie wahr zu machen, ist eine andere Frage. Es hat auch kein ernstzunehmender russischer Politiker gesagt, daß man in Moskau auf Krieg aus ist. Im Gegenteil, dort fühlt man sich selbst bedroht. Und zwar mit folgender Begründung: Schon vor fünf Jahren wurde der Kalte Krieg feierlich für beendet erklärt und ein neues Zeitalter der Partnerschaft und Einheit Europas ausgerufen. So war, sagt man in Moskau, die Auflösung des Warschauer Paktes nur konsequent - die Auflösung der NATO wäre das auch. Gegen wen will sie denn ihre Mitglieder verteidigen? Stattdessen spricht sie zwar von „Kooperation" und „Friedenspartnerschaft". Wäre es dann, so fragen die Russen, nicht besser, gleich eine umfassende Sicherheitsordnung ohne Ausgrenzung zu schaffen?

Das ist ein Konzept, das schon früher in Moskau vertreten wurde, und für das sich Außenminster Kosyrew schon 1994 und auch noch 1995 massiv eingesetzt hat. Anstelle des Blockdenkens sollte nach russischen Vorstellungen eine „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" treten, eine Art „Euro-UNO" mit echten Vollmachten und einer klaren rechtlichen Grundlage. Die bestehenden Bündnisse - so die Moskauer Ideen - sollten sich dieser Rahmen- oder Dachorganisation einordnen. Man hegte also in Moskau die Hoffnung, daß mit einer solchen Konstruktion dann zwar die NATO nicht aus der Welt geschafft, aber in dieses Rahmengebäude eingeordnet werden könnte...

dieFürche: Hat es für diese Ideen Zustimmung gegeben?

Schneider: Rußland hat in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE, vormals KSZE, Anm. d. Red.) Ende 1994 einen Beschluß durchgesetzt, daß über die Sache umfassend diskutiert werden soll. Und zwar unter dem Titel eines „gemeinsamen und umfassenden Sicherheitsmodells" für das 21. Jahrhundert. Darüber wurde nun ein Jahr lang diskutiert, und das Ergebnis ist eindeutig: nur zwei oder drei von den mehr als 50 OSZE-Staaten konnten den Moskauer Vorstellungen etwas abgewinnen! Die russischen Delegierten mußten erkennen, daß das Gesamteuropäische Kollektive Sicherheitssystem, das die NATO überwinden oder ihr übergeordnet werden soll, ein völlig aussichtsloses Projekt ist! Namhafte russische Experten meinen sogar, daß die derzeitige Moskauer Führung nach diesen Enttäuschungen das Interesse an der Sache verloren hat und sich wohl oder übel mit den gegebenen Verhältnissen abfindet.

dieFürche: Ist das mit ein Grund dafür, warum das Vertragswerk von Dayton, einschließlich der Bevollmächtigung der NATO zur Friedenswahrung in Bosnien, ausdrücklich von Rußland mitverhandelt und gebilligt worden ist?

Schneider: Ja, vielleicht. Es hat sich ja auch die Tonlage in Moskau in Sachen NATO-Osterweiterung geändert In den vergangenen Jahren haben russische Sprecher immer wieder betont, eine Ausweitung der NATO nach Osten werde als massive Bedrohung der eigenen Sicherheit betrachtet und sei daher völlig inakzeptabel. Jetzt sind neue Redewendungen zu hören: Die Aufnahme neuer NATO-Mitglieder sei unannehmbar, „wenn nicht dabei auf die die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands Rücksicht genommen wird... "

dieFürche: Was ist damit gemeint?

Schneider: Was in dieser Formel stecken mag, ist noch nicht ausgelotet. Die russischen Vorstellungen gehen dahin, daß es jedenfalls keine Ausgrenzung Moskaus aus dem Kreis der Mitbestimmenden geben dürfe.

dieFürche: Inzwischen wird auch in Österreich über die Zukunft der Beziehungen zur NATO diskutiert Was ergibt sich für uns aus diesen Entwicklungen?

Schneider: Österreich hat sich entschlossen, im Rahmen des Projektes „Partnerschaft für den Frieden" mit der NATO zusammenzuarbeiten und mit Bundesheersoldaten an der unter NATO-Befehl stehenden Streitmacht zur Umsetzung des Friedensabkommens in Bosnien teilzunehmen.

Andererseits hat erst vor wenigen Wochen das Europa-Staatssekretariat eine im Auftrag des Bundeskanzleramtes erarbeitete Studie vorgelegt. In der wird Österreich empfohlen, Distanz zur NATO zu halten. Stattdessen soll sich Österreich, dieser Studie zufolge, der Idee eines gesamteuropäischen Systems kollektiver Sicherheit verschreiben; also jener Idee, der man zur Enttäuschung Rußlands in der OSZE, wie gesagt, ein Begräbnis dritter Klasse bereitet hat!

So kann man nur wünschen, daß bei uns jetzt endlich unvoreingenommen,, darüber diskutiert wird, wie sich die sicherheitspolitische Landschaft entwickelt, und welche Konsequenzen sich daraus für Österreich ergeben. Die Reform der Europäischen Union steht 1996 auf der Tagesordnung; die Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird dabei ein Hauptthema sein.

Nur wenn wir selbst wissen, was wir wollen, können wir auch mitbestimmen, wohin die Reise gehen soll.

Das Gespräch führten

Elfi Thiemer und Susanne Newrkla.

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