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Scharfer Wind aus Zürich

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Die Ergebnisse der eidgenössischen Wahlen werden jenseits der helvetischen Grenzpfähle vermutlich den Eindruck erwecken, sie hätten „wieder einmal“ die berühmte schweizerische Stabilität bestätigt. Zu diesem Ergebnis kann — oder muß — bei oberflächlicher Betrachtung der

Mandatverschiebungen ein Beobachter gelangen, der die Dinge nicht aus der Nähe kennt. Denn sowohl bei den Ständeratswahlen (sie wurden nur in 13 von 25 Kantonen durchgeführt) wie auch bei den Nationalratswahlen haben sich Änderungen in der Mandatverteilung auf die konkurrierenden Parteien ergeben, die man gewiß nicht als spektakulär bezeichnen kann.

Dieses Ergebnis bestätigt in etwa die von uns vor den Wahlen gewagte Prognose. Wir schrieben damals, daß die bürgerlichen Regierungsparteien In der Nationalratswahl mit Verlusten von je zwei bis drei Mandaten zu rechnen haben werden, daß vermutlich die Sozialisten — als Folge ihres Zürcher Husarenstreichs mit der Kandidatur des „Weltwoche“-Chefredakteurs — etwas stärker gerupft werden und daß alle diese Verluste der Regierungsparteien dem Landesring der „Unabhängigen“ zugute kommen werden, dem wir einen Sitzgewinn von vier bis fünf Nationalratsmandaten prophezeiten. Die Prognose hat sich ziemlich genau bestätigt: die Konservativen verloren drei Nationalratssitze, die Freisinnigen deren zwei, die Sozialisten drei und die kleinere Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei einen, während der Landesring sechs Nationalräte mehr nach Bern schickt und die Kommunisten — wir hatten ihnen einen bis zwei Gewinne prognostiziert — einen Sitzgewinn buchten und einen zweiten (in Zürich) nur um Haaresbreite verpaßten.

Summa summarum ist, wie voraus, die Gewichtsverschiebung nicht derart, daß irgendeine Änderung in der

Zusammensetzung des Bundesrates (der sich aus je zwei Konservativen, Freisinnigen und Sozialisten und einem BGB-Mann zusammensetzt) zu erwarten wäre. Die Regierungsparteien, die im Nationalrat bisher über 175 von insgesamt 200 Sitzen verfügten, haben auch in der neuen Volkskammer mit 166 Sitzen eine sehr komfortable Mehrheit, und im Ständerat gar sind ihnen mindestens 36 von 44 Stimmen sicher.

Kein Erdrutsch, aber ...

Angesichts dieser Kräfteverhältnisse ist es falsch, wenn die Zürcher Studios des Schweizer Radios und

Fernsehens in der Wahlnacht immer wieder von einem „Erdrutsch“ redeten. Das Gefühl, daß ein Erdrutsch sich ereignet habe, ist nur unter dem Eindruck des Zürcher Resultats erklärbar. Denn nicht nur hat der Landesring vier von seinen insgesamt sechs Mandatgewinnen in

der Zürcher Nationalratswahl geholt und dort auch seinen einzigen Ständeratssitz erobert, sondern er hat im Kanton Zürich vor allem seine Wählerstimmen verdoppelt: Uberhaupt muß man, um sich ein richtiges Bild der eingetretenen Tendenzveränderung zu machen, nicht nur die Sitzverschiebungen in Betracht ziehen, sondern die Veränderungen in der Listenstimmen-zahl der Parteien. Dann springt eine geradezu spektakuläre Zunahme der Landesringwähler in die Augen, auch wenn sie sich zufolge der Proporztücken mancherorts nicht oder nur teilweise in Mandate ummünzen ließ. Es kommt dazu, daß die Migros-Partei, Vorkämpferin der ausschließlichen Konsu: aenteninteressen, in zahlreichen städtischen und halbstädtischen Gemeinden sich von den hintersten in die vordersten Ränge vorgearbeitet hat; im Kanton Zürich ist sie zur stärksten Partei aufgerückt, In der Stadt Luzern gar vom letzten auf den ersten Platz. Das sind Symptome einer Veränderung, um nicht zu sagen Umwälzung, die nicht zu bagatellisieren sind.

Abschied von der helvetischen Stabilität

Diese Symptome weisen darauf hin, daß die vielbemühte, immer wieder bestätigte helvetische Stabilität einer innerpolitischen Bewegung, ja Dynamik zu weichen beginnt, deren Tragweite noch nicht abzuschätzen ist. Darauf hin deuten auch die Umstände, daß erstens dem Landesring eigentliche Einbrüche in ländliche Bezirke gelungen sind, daß er zweitens in der Westschweiz wieder Fuß zu fassen vermochte und in

Genf erstmals seit langem wieder ein Mandat erobert hat, daß drittens die kommunistische „Partei der Arbeit“ sich als Sammelbecken der Opposition verstärkt und auch in Zürich einen Nationalratssitz erobert hat, so daß sie erstmals seit 1955 wieder in Fraktionsstärke ins Parlament einzieht (was bedeutet, daß sie künftig Anrecht auf Einsitz in wichtige Ausschüsse und damit Zugang zu vertraulichen Auskünften der Regierung erhält). Apropos Zürich: Es kann für sich auch die zweifelhafte Ehre buchen, als einziger Stand einen Vertreter der Fremdenhasser alias „Aktion gegen die

Überfremdung“ erwählt zu haben, was nicht einmal den in Genf recht starken „Vigilants“ geglückt ist...

Symptome einer innenpolitischen Umstrukturieru ng

Das Entscheidende und auf längere Sicht sicher gewichtigste Wahl-

merkmal ist nach allgemeiner Auffassung darin zu erblicken, daß zahlreiche Wähler den Regierungsparteien einen Denkzettel verabfolgen wollten für die ihnen vom Duo Migros-Landesring seit zwei Jahren

Tag für Tag eingehämmerte angebliche Teuerungspolitik des Bundesrates und für die Konzeptionslosig-keit der Regierung in den Fragen der Infrastruktur. Dies, obwohl es Bern gelungen ist, die galoppierende Teuerung der Jahre 1964/65 unter Kontrolle zu bekommen, die Schweiz aus der europäischen Spitzenposition wieder ins Teuerungs-Mittelfeld zu manövrieren, den Baumarkt zu normalisieren (Beispiel: Rückgang von Baulandpreisen und billigere Bauofferte vor allem im Tiefbau), die Ertrags- und Handelsbilanz zu verbessern und das Wirtschaftswachstum, wenn auch abgeschwächt, zu erhalten.

Es hat sich gezeigt, daß die Mirage-Affäre, wiewohl daraus einzelne — aber nicht alle — Lehren gezogen wurden, das Vertrauen in die Politik und die Institution doch stärker und nachhaltiger angeschlagen hat, als angenommen wurde. Auf das geschaffene Mißtrauen fiel in letzter Zeit die Saat der „Non-konformisten“ mit offensichtlichem Erfolg, und davon haben jene profitiert, die sich als Garanten der Opposition empfahlen: Landesring und Kommunisten. Immer mehr Bürger sind davon überzeugt, daß die etablierten Mächte unbeweglich geworden sind und daß es unentbehrlich ist, ihnen immer wieder „auf die Füße zu treten“, wie es Landesring und Partei der Arbeit tun. Nur so könne die zur Erstarrung gewordene helvetische Stobititöt überwunden werden und einer Beweglichkeit Platz machen, die nötig sei, um die neuen Probleme einer neuen Zeit zu meistern.

Nun, das Ungenügen der Institutionen ist eine Tatsache, die niemand ernsthaft zu bestreiten wagt. Und

Tatsache ist auch, daß die Regierung und die Regierungsparteien wenig Beweglichkeit, Sicherheit und Einbildungskraft an den Tag legen, wenn es gilt, Reformen herbeizuführen; man tastet sich vorsichtig voran. Das Unbehagen über diese Tatbestände erklärt indessen den Erfolg des Landesrings und der Partei der Arbeit, das Aufkommen von allerlei „nonkonformistischen“ Gruppen und den Zürcher Erfolg der Fremdenhasser nicht. Vielmehr zeichnet sich hier etwas in der bisherigen Schweiz kaum Gekanntes ab: Ein Hang zu extremen Positionen.

Radikalisierung?

Eine gewisse Tendenz zur Radikalisierung in der politisch sich heimatlos fühlenden „neuen Klasse“ der Städte und Vorstädte ist kaum mehr zu übersehen. Diese Klasse fühlt sich ausschließlich als Konsumentenschaft, es fehlt ihr mangels Kontakt mit der dörflich-bäuerlichen und gewerblich-handwerklichen Volksschicht das Verständnis für die Sorgen der Produzenten. So sind sie empfänglich für die extrem konsumentenpolitische Haltung von Migros und Landesring, der ihnen einredet, die schweizerische Landwirtschaft sei hinter dem Mond und die Landwirtschaftspolitik des Bundes von A bis Z verfehlt — wiewohl die Landwirtschaft in den letzten Jahren die größte Produktivitätssteigerung aller Wirtschaftszweige ausweist. Die Folge ist ein immer stärkeres Auseinanderklaffen zwischen Konsumenten- und Produzentenpolitik und ein Schwund an gegenseitigem Verständnis. Daß hier für den inneren Zusammenhalt im Volke und für die Referendumsdemokratie ernste Gefahren lauern, liegt auf der Hand.

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