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Schatten über Frankreich

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Man gebe sich keiner Täuschung hin über die Tragweite des jetzt in Frankreich ausgebrochenen innenpolitischen Konflikts. Es handelt sich nicht nur um eine der üblichen Regierungskrisen, wie sie in der IV. Republik zur Tradition geworden sind, sondern um eine schwere Staatskrise, die über die Zukunft der französischen Republik entscheiden wird. Zwischen dem

Präsidenten der Republik und den traditionellen Parteien der parlamentarischen Demokratie hat eine Kraftprobe begonnen, die nur mit der bedingungslosen Niederlage des einen oder anderen Gegners enden kann.

Nicht der Sturz der Regierung Pompidou mußte überraschen, unvermutet kam bloß die eklatant deutliche Annahme des Tadelsantrages, der die Stimmen von 10 Kommunisten, 43 Sozialisten, 33 Demokraten, 50 Volks-republikanern, 109 Unabhängigen, 3 Gaullisten und 32 Nichteingeschriebenen gegen die gaullistische Union und einige wenige Unabhängige und Volksrepublikaner vereinigte. Es war dies nicht der Ausdruck eines jäh erwachten parlamentarischen Widerspruchsgeistes, sondern nackte Notwehr, zu der General de Gaulle mit seiner Brüskierung der Nationalversammlung die Veranlassung gegeben hatte. Denn die Tadelsmotion richtete sich keineswegs gegen die fast durchwegs als notwendig anerkannte Idee einer Verfassungsänderung; sie betraf die verächtliche Umgehung der Legislative in dem vom Staatspräsidenten gewählten Verfahren —, einem Verfahren, das nach der überwiegenden Auffassung der Fachleute im Staatsrat und Verfassungsrat nicht mit dem geltenden Grundgesetz zu vereinbaren war. Hätte die parlamentarische Opposition geschwiegen, wäre sie sozusagen lebend begraben worden.

Dieser von de Gaulle aus freien Stücken, wenn auch vielleicht in Überschätzung der parlamentarischen Widerstände vom Zaune gebrochene Konflikt führt zur Vermutung, daß es der Staatschef auf eine entscheidende Demütigung der Parteien angelegt hat. In Wahrheit führt dieser Streit auf die Anfänge der IV. .Republik zurück; auf jenen erklärten Unwillen des Generals, irgendwelche intermediäre Organisationen zwischen sich und dem französischen Volk zu dulden und statt derer seinen direkten Rapport mit der Masse spielen zu lassen. Genau dieses Rapportes will er sich auch heute bedienen, um den Widerstand der parlamentarischen Mehrheit in die Zange zu nehmen und förmlich zu knacken. Die oppositionellen Parteien unterschätzen diese Gefahr nicht und sehen den beiden nächsten . „Runden“ der Auseinandersetzung, dem Verfassungsreferendum vom 28. September und den Legislativwahlen, mit großer Sorge entgegen.

De Gaulle kann in der nun beginnenden Periode eines vermutlich mit unerhörter Schärfe geführten Wahlkampfes drei Hauptargumente ins Treffen führen. Das erste betrifft jenes exzessive und ruinöse Parteienregime, das sich in der IV. Republik selber disqualifiziert hat und beim französisehen Volk auch nicht mehr die geringste Sympathie genießt. Dagegen hat „Le Monde“ allerdings mit Recht eingewandt, daß die Behauptung, Frankreich kehre zur IV. Republik zurück, falsch sei, denn es habe diese Ära überhaupt noch nicht verlassen. In der Tat hat gerade der Sturz Pom-pidous erkennen lassen, wie wenig die V. Republik die Grundzüge der französischen Demokratie zu wandeln vermochte, haben sich doch gerade jene Gesetze wieder geltend gemacht, die vor 1958 bestimmend waren; insbesondere jenes Gravitationsgesetz, das die Dauer jedes Kabinetts mit der parlamentarischen Mehrheit zu den gerade vorherrschenden politischen Fragestellungen in Beziehung setzt. In diesem Sinne gab es in der französischen

Nationalversammlung schon nach der Liquidierung Algeriens keine eigentliche Mehrheit mehr — weder in der Außenpolitik, noch in der Frage der Verfassungsreform.

Das zweite Argument betrifft die Volkswahl des Staatspräsidenten, die de Gaulle als das denkbar demokratischste, republikanischste und französischste Verfahren präsentierte. Zum Vorwurf einer Verletzung der geltenden Verfassung wird im übrigen sein Ausspruch überliefert, man könne nicht seine eigene Frau vergewaltigen. Offenbar zählt er Verfassungsänderungen zu den persönlichen Angelegenheiten seiner Intimsphäre, in die sich niemand einzumischen hätte. Einer etwas differenzierteren Anschauung entspricht allerdings die Auffassung, daß man seine Frau zwar vergewaltigen kann, aber nicht soll. Das heißt: wenn willkürlich Hand an die Verfassung gelegt wird, muß die Achtung vor dem Grundgesetz auf die Dauer schweren Schaden nehmen, um so mehr als die Konstitution von 1958 insofern nie respektiert wurde, als nicht das Kabinett, sondern der Staatspräsident die eigentliche Regierungsgewalt ausübte — und zwar ohne jede Verantwortungspflicht gegenüber der Legislativen. Der Hinweis auf die Parallele der amerikanischen Präsidialdemokratie ist also irreführend. Dies ist denn auch der Grund für die Opposition aller Parteien — mit Ausnahme der gaullistischen Union — zum Verfassungsprojekt des Generals. Außerdem besteht die Gefahr, daß die entsprechende Manipulierung der Verfassung ohne Einbau entsprechender legislativer und juristischer Gegengewichte den Staat in einem Ausmaß auf die einmalige Person de Gaulles zuschnitte, die jedem normalbegabten Abenteurer Tür und Tor öffnen müßte. Denn es kann doch nicht ernsthaft damit gerechnet werden, daß das politische Leben Frankreichs in Zukunft Staatsmänner kongruenten Formats in bequemen Abständen gewissermaßen von der Stange liefern könnte.

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