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Schaustück aus Bonn

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Willy Brandt hat es geschafft. Nach drei Wahlkämpfen kam er doch noch mit Umwegen zur Würde des deutschen Regierungschefs. Die knappete Mehrheit, die man sich vorstellen kann, hat eine neue Situation für ein sich integrierendes Europa, für das West-Ost-Verhältnis und für die Innenpolitik der zweitgrößten Wirtschaftsmacht des Westens geschaffen. Der neue Kanzler und sein Linkskabinett bedeuten zum ersten einen klaren Linksrutsch in Mitteleuropa. Das volkreichste Land des Kontinents hat an der Spitze eine Regierung, deren gesellschaftspolitische Leitbilder nicht mit denen der meisten Nachbarregierungen übereinstimmen. Was in Bonn versucht wird, muß folglich dem politischen Experiment zuigeordnet wenden; und Gelingen oder Mißlingen wird auch eine logische Konsequenz für das bestehende Spannungisverhältms zwischen „Rechts“ und „Links“ in ganz Europa haben.

Die Kanzlerwahl war die erste Hürde. Jetzt kommen die laufenden Bewährungsproben der schwachen Mehrheit im Bundestag. Da taucht zunächst das ganz konkrete Problem auf, wie die Regierungsmitglieder ihren Abgeordnetenpflichten nachkommen können. Die Erfahrung lehrt, daß fast ständig einige deutsche Minister im Ausland oder zumindest weit weg von Bonn sind. Überdies wird die FDP kaum die auf sie entfallenden Ausschußmitglieder im Parlament stellen können, weil sie latent an personeller Ausblutung durch ihre Regierungsbeteiligung leidet

Dazu kömmt, daß die FDP (aber eventuell auch die SPD) laufend innerparteiliche Konflikte ausräumen wird müssen, um geschlossene Abstimmungserfolge zu erzielen. Denn entgegen den Gepflogenheiten in Wien ist die Klubdisziplin der Parteien in Bonn bisher niemals mit letzter Konsequenz gehalten worden. Und schließlich bleibt die Möglichkeit des Handicaps durch eine Grippewelle, Nebel auf der Autobahn oder nicht startende Maschinen angesichts der größeren' Entfernungen aufrecht.

Man braucht kein Prophet zu sein, um dieser schwachbeinigen Konstruktion eine Politik der Kompromisse und der lauwarmen Lösungen zuzuordnen.

Um so bemerkenswerter ist nach wie vor der Mut von Bundeskanzler Brandt zu diesem Abenteuer. Und dieser Mut zum Abenteuer verdient auch Anerkennung.

Um so weniger Anerkennung verdienen freilich jene Gleichgeschalte-

ten der deutschen und internationalen Linkspresse, die einen mutigen Versuch zur Verfälschung des zugrunde liegenden Tatbestandes nützen. Diese Operationsbasis, die dem Linksmagazin „Spiegel“ als journalistisches Manöverfeld der Manipulation dient, ist nichts anderes als der Versuch zur Fälschung und Verfälschung einer demokratischen Willensäußerung des deutschen Volkes. Und so demaskierte auch die „Neue Zürcher Zeitung“ präzise einen Tatbestand mit einem Kommentar, dem nichts hinzuzufügen ist:

„Wer in einer Wahl die meisten Stimmen und Parlamentssitze erhält, heißt fortan ,Verlierer“. Gewinner“ heißt der mit deutlichem Abstand folgende Zweite, besonders wenn und weil sein Resultat erheblich hinter seiner eigenen und der allgemeinen Erwartung zurückgeblieben ist. Ein Regierungsbündnis der stärksten Fraktion mit der schwächsten Gruppe heißt .Koalition der Verlierer“, auch wenn es, konkret gesprochen, eine relativ komfortable Basis von 24 Stimmen über der absoluten Mehrheit hätte. Eine Koalition der schwächeren Partei mit der schwächsten Gruppe hingegen, die, wenn’s gut geht, knappe 6 Stimmen über die absolute Mehrheit hinaus mobilisieren könnte, ist ein ,Mandat der Wähler für einen Machtwechsel“…“

Trotzdem, der Machtwechsel ist perfekt. Wenn auch nur mit der knappsten aller möglichen Kombinationen. Jetzt liegt es an der CDU, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Das Jammern nützt ebensowenig wie der latente Versuch der Pression bei einzelnen Abgeordneten der FDP. Beides wird vom Staatsbürger nicht honoriert.

Jetzt gilt es, die christlich-demokratischen Reserven im Sinne einer echr ten, zeitgerechten Reform einzusetzen. Einer Reform, die auch in Österreich der Volkspartei nach der Ära der Honoratioren und Patriarchen gelungen ist.

In Österreich aber wird man darüber hinaus nicht allein bis zum 1. März 1970 das Geschehen im nordwestlichen Nachbarland mit Spannung verfolgen.

Hier hat es seit 1945 noch keine „kleine Koalition“ gegeben. Wird die Bonner Bühne ein Schaustück liefern?

Schon jetzt wird klar, daß die Erpressungspolitik kleiner Parteien — seien sie Verlierer wie die FDP oder auch mögliche Gewinner von einigen Prozent der Stimmen — eine verteufelte Basis ist.

In Österreich gehen manche bereits herum, die die „kleine Koalition“ im Talon haben. Die Karte soll zeitgerecht stechen. Diese Spieler sitzen in beiden großen Parteien.

Aber noch niemand hat die Konsequenzen des deutschen Beispiels hierher übertragen und auf gut österreichisch umgesetzit. Niemand hat sich mit dem .großen Unterschied beschäftigt:

Was nämlich im deutschen Kabinett nach wie vor durch Mehnheitsent- schluß entschieden werden kann, bliebe in Österreich liegen. In Bonn gibt es eine Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers; in Wien aber das Einstimmigkeitsprinzip im Ministerrat.

Auch nur ein Minister einer kleinen Minderheitspartei kann alles lähmen. Alles.

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