Sima Samar - © Foto: APA / AFP / Wakil Kohsar

Sima Samar: „Niemand will die Taliban“

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Hauptopfer des Taliban-Regimes vor 2001 waren Frauen. Viel hat sich bewegt seither. Doch was nun? Sima Samar, Ex-Frauenministerin und Ex-Vizepräsidentin Afghanistans, im Interview.

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Hauptopfer des Taliban-Regimes vor 2001 waren Frauen. Viel hat sich bewegt seither. Doch was nun? Sima Samar, Ex-Frauenministerin und Ex-Vizepräsidentin Afghanistans, im Interview.

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Sima Samar ist eine Frau, die alles gesehen hat: Ihr Mann verschwand während der kommunistischen Herrschaft 1984 nachdem er verhaftet worden war, sie selbst floh nach Pakistan, wo sie ein Frauen- und Kinderspital aufbaute. 2001 wurde sie Frauenministerin und Vize-Präsidentin Afghanistans, trat aber bereits 2002 zurück und baute die „Afghan Independent Human Rights Commission“ auf, eine der wenigen staatlichen Strukturen des Landes, die tatsächlich bis zuletzt höchst professionelle Arbeit leistete. 2012 erhielt sie den Alternativen Nobelpreis für ihren Einsatz. Sie ist eine der prominentesten, vor allem aber lautesten Frauen in der afghanischen Öffentlichkeit, wenn es um Menschenrecht und den Mut dafür einzutreten geht. Derzeit ist sie im Ausland. An sich hatte sie vor, zurück nach Kabul zu fliegen, dann aber aufgrund der sich überschlagenden Ereignisse ihre Heimreise hinausgezögert. Für sie markiert der Fall Kabuls das Ende von 20 Jahren Aufbauarbeit.

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DIE FURCHE: Was sind aus Ihrer Sicht denn die größten Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre in Afghanistan?
Sima Samar: Es ist ganz sicher der Zugang zu Bildung und die Möglichkeit, sich frei äußern zu können.

DIE FURCHE: Wenn man sich Afghanistan so ansieht, dann wirkt das wie der komplette Kollaps von allem, was in den vergangenen 20 Jahren verändert worden ist. Was ist da passiert?
Samar: Es ist eine Tragödie. Ich verstehe nicht, wieso diese Städte so rasch gefallen sind. Die Menschen unterstützen die Taliban nicht, wir haben Strukturen, wir haben Sicherheitskräfte. Aber die Geschwindigkeit, mit der die Taliban das Land übernommen haben, ist verrückt. Und das ist nicht nur die Verantwortung der Afghanen, das ist eine Verantwortung der internationalen Gemeinschaft. Wir hatten 47 Staaten, die Truppen in Afghanistan hatten. Es ist auch deren Verantwortung.

DIE FURCHE: Man könnte sagen, da haben sich 20 Jahre internationales Engagement in Afghanistan gerade in Luft aufgelöst. Ist dem so?
Samar: Ich würde das nicht sagen. Wir haben gebildete Menschen, wir haben gewisse Strukturen aufgebaut. Aber wir haben es nie geschafft, dauerhaft Stabilität zu halten. Und das ist es, was wir jetzt sehen, was jetzt auf uns zurückfällt.

Gäbe es heute Wahlen, würden diese zeigen, dass niemand die Taliban will. Und sie wissen das. Sie wissen das ganz genau.

Sima Samar

DIE FURCHE: Was ist da schief gelaufen?
Samar: Wir haben einen grundlegenden Fehler gemacht: Der Garant für Stabilität ist Inklusion. Alle Menschen, jeder Bürger sollte Fortschritt spüren und davon profitieren. Das ist nicht passiert. Korruption ist das andere große Problem. Und dann vor allem dieser riesige Mangel an Kooperation und Koordination zwischen Gemeinden und Gruppen und der internationalen Gemeinschaft. Ich werde mich nie dafür aussprechen, Menschen zu töten, aber es hätte Wege gegeben, gegenüber den Taliban stärker und vor allem geeinter aufzutreten, dieses Thema zu lösen. Das ist nicht passiert. Und das ist es, wieso sie nach wie vor so stark sind und jetzt immer stärker geworden sind. Und das ist es auch, wieso sie eben doch eine gewisse Anziehungskraft haben auf einzelne.

DIE FURCHE: Man hat bei Afghanistan immer wieder den Eindruck, da gibt es formelle Strukturen und dann gibt es informelle Strukturen – Stämme, Dorfälteste und so weiter. Sind es diese informellen Strukturen, die sich gerade durchgesetzt haben? Hat man die unterschätzt?
Samar: Wenn es ein Gesetz gibt, wenn ein Gesetz umgesetzt wird, dann muss es für alle gelten. Es geht um Rechtsstaatlichkeit. Wenn Recht selektiv angewandt wird, dann wird es zum Problem. Was ich derzeit sehe ist weniger, dass sich informelle Strukturen durchgesetzt haben. Es ist Korruption, die da gerade siegt.

DIE FURCHE: Aber gab es denn diese Rechtsstaatlichkeit jemals wirklich?
Samar: Ja, die gab es. Es gab so etwas wie Rechtsstaatlichkeit in den vergangenen 20 Jahren.

DIE FURCHE: Weil sie selektive Rechtsanwendung angesprochen haben. Oft gewinnt man den Eindruck, Menschen präferieren zu fast jedem Preis Berechenbarkeit, sei sie noch so brutal, unmenschlich und gewalttätige, vor Unberechenbarkeit.
Samar: Unberechenbarkeit hat die Taliban und den Widerstand gegen den Staat sicher gestärkt. Aber wir sind in einer fatalen Lage: Wie kann man Brutalität und Gewalt stoppen? Ein Gewehr ist dazu gemacht, um zu töten. Und daher wird so lange kein humanitäres Menschenrecht gelten, solange das Gewehr herrscht.

DIE FURCHE: Was bedeutet das in der jetzigen Situation, in der Afghanistan steckt?
Samar:
Es wird wirklich gefährlich werden. Und es liegt auch an der internationalen Gemeinschaft, diese Verantwortung zu übernehmen. Denn: Die Probleme Afghanistans werden nicht in Afghanistan bleiben. Aber wenn es einen Konsens in Afghanistan gibt, Menschenrechte zu achten, wenn es Rechtsstaatlichkeit gibt in Afghanistan, dann wird das genauso ausstrahlen.

DIE FURCHE: Aber wie soll das derzeit gehen?
Samar: Es besteht nicht die Notwendigkeit, Soldaten zu entsenden. Es geht auch nicht darum, Truppen zu stationieren. Es gibt andere Wege, um Druck aufzubauen.

DIE FURCHE: War es denn ein Fehler, mit den Taliban zu verhandeln? Man könnte den Eindruck gewinnen, die Taliban hätten es seit Beginn der Gespräche erst recht darauf angelegt, Gebiete zu gewinnen, um ihre Verhandlungsposition zu stärken. Und letztlich hat es keiner Verhandlungen mehr bedurft.
Samar: Ich war immer dafür, zu sprechen, solange der Respekt vor Menschen und eine Wahrung der Menschenrechte die tragenden Säulen solcher Gespräche sind. Wieso also nicht verhandeln? Man muss sprechen.

DIE FURCHE: Aber wie gesagt: Da gab es Gespräche und auf dem Boden gab es Offensiven. Hätte man da abbrechen sollen?
Samar: Klar, was haben wir erreicht? Aber: Land zu gewinnen und zu regieren sind zwei unterschiedliche Dinge. Die Taliban hatten schon einmal die Macht in Afghanistan, aber haben sie Rechtssicherheit geboten? Haben sie Jobs geschaffen? Haben sie die Wirtschaft angekurbelt? Hatten sie denn die Kapazitäten, das Land wirklich zu lenken? Gäbe es heute Wahlen würden die zeigen, dass niemand die Taliban will. Und sie wissen das. Sie wissen ganz genau, dass sie bei Wahlen nichts aber auch gar nichts erreichen können. Stünden die Menschen hinter ihnen, würde ich das respektieren.

DIE FURCHE: Jetzt sind 20 Jahre internationalen Engagements - eine ganze Generation an Menschen, die zum einen vielleicht nur dieses neue Afghanistan kennen, aber eben auch die Taliban - nicht mehr. Ist diese neue Generation denn stark genug, um für ihre Zukunft einzustehen, sich durchzusetzen?
Samar: Diese Generation ist stark und sie kann sich wehren. Sie kann sich zivilisiert wehren. Wir haben Kundgebungen und Demos gesehen, wir haben eine Zivilgesellschaft gesehen. Aber wenn eine solche Kundgebung dann von einem Selbstmordattentäter angegriffen wird und es 200 oder 300 Tote gibt, dann wird es schwierig, sich zu wehren. Aber dennoch: Man merkt diesen Willen zur freien Meinungsäußerung, man sieht es und das ist ein Hebel für viele Menschen, sich zu wehren.

DIE FURCHE: Aber wo verläuft dann der Konflikt? Ist das einer zwischen Generationen? Zwischen Weltbildern? Zwischen Bildungsschichten? Zwischen Stadt und Land?
Samar: Es ist ein Konflikt zwischen Zivilisation und Sonderlichkeit. Es ist ein Problem zwischen Menschen, die Freiheit wollen und solchen, die sich nach Unterdrückung sehnen. Und lösen lässt sich das nur über Gespräche und irgend eine Art von Abkommen, um danach aber massiv einen demokratischen Prozess zu stärken.

DIE FURCHE: Aber Afghanistan ist dann ja doch speziell: Zwei Generationen Krieg führen zu schwachen staatlichen Strukturen.
Samar: Wir haben jetzt seit mehr als 40 Jahren Krieg. Aber das ist nicht nur ein afghanisches Problem und war es nie. Das ist auch ein Problem und die Verantwortung der Weltgemeinschaft. Das ist klar. Und es gäbe Möglichkeiten, so es denn auch den politischen Willen dazu gäbe.

DIE FURCHE: Verhandlungen, Abkommen – das bedeutet auch, dass Zugeständnisse gemacht werden. Wer zieht hier den Kürzeren?
Samar: Die Frauen. Die Hälfte der Bevölkerung Afghanistans. Sie müssen in Würde leben dürfen, als Menschen gesehen werden.

DIE FURCHE: Aber jede auch noch so gebildete und moderne Frau wird sich rasch eine Burka überwerfen, sobald sie unter Taliban-Herrschaft kommt. Aus sehr verständlichen Gründen. Ist Angst vielleicht letztlich stärker?
Samar: Für die eigene Sicherheit wird jede Frau tun, was möglich ist. Aber am Ende sind wir Menschen, wir sind keine Steine.

DIE FURCHE: Aber wenn eben all diese gebildeten Frauen einer Generation, die sich wehren möchten und auch wehren könnten, die auch die Kraft haben dazu, wie Sie sagen, wenn die alle unter der Burka verschwinden oder ins Ausland gehen: Ist das das Ende?
Samar: Das denke ich nicht, aber es wird viel Zeit in Anspruch nehmen, da wieder raus zu kommen. Der Kampf um Freiheit und Gleichheit braucht immer viel Zeit und fordert auch Opfer. Viele Menschen werden dafür zahlen. Aber es gibt den Willen, sich zu wehren.

DIE FURCHE: Wenn man so auf die vergangenen 20 Jahre zurückblickt: Wurde in den einzelnen Bereichen genug getan, um Afghanistan dauerhaft zu verändern?
Samar: Nein, ganz sicher nicht. Aber es ist eben eine geteilte Verantwortung und jeder muss sich einbringen, damit wir all das, was wir in diesen zwei Jahrzehnten gewonnen haben, nicht wieder verlieren. Das ist einfach gesagt, aber schwer umzusetzen. Es geht darum, eben diese Entwicklungen zu behalten und darauf aufzubauen.

DIE FURCHE: Bis jetzt geben sich die Taliban einigermaßen diplomatisch, sie haben das Land großteils über Verhandlungen mit Regionen und Kommandanten erobert, sie haben Truppen freies Geleit gegeben. Sie basieren auch nicht mehr ausschließlich auf paschtunischen Stammesstrukturen. Haben sich die Taliban verändert?
Samar: Das wird sich erst zeigen.

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