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Skandinavien nach den Wahlen

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Das Interessanteste an den eben durchgeführten Wahlen in Dänemark, Schweden und Norwegen ist zweifellos das, was sie nicht gebracht haben, und die sehr abwegige, in manchen Fällen vollständig falsche Deutung, die sie in einem Teil der ausländischen Presse gefunden haben. Die Presse der Schweiz schneidet bei so einer nachträglichen Betrachtung besser ab als die Westdeutschlands oder Österreichs, bei der allzuoft taktische Erwägungen (in Hinblick auf eigene Wahlen!) oder allzu harte Parteigebundenheit ein verzerrtes Bild der Lage zeichnen ließen. So müßte leider einer Kommentierung der Wahlen in den nordischen Ländern eigentlich ein Katalog jener Erscheinungen vorangesetzt werden, die ihren Ursprung in nichtskandinavischen Redaktionen haben.

Am klarsten erscheint die Situation noch in Dänemark, das am 22. September die Mitglieder des neuen Folketingets gewählt hat. Die Konservativen gewannen dort vier Mandate, die sie den Sozial-Liberalen, der Sozialistischen Volkspartei Axel Larsens, den rechtsradikalen Unabhängigen und den Deutschen in Schleswig abnahmen. Die Sozialdemokraten behielten ihre 76 Mandate, verloren jedoch gegen 1960 0,15 Prozent oder 20.000 Stimmen. In Hinblick auf das gute Wahlergebnis des Jahres 1960 bedeutet das eine Konsolidierung der Stellung der Arbeiterpartei, die . so dringend nötige Verstärkung der Mandatszahl konnte sie jedoch nicht erreichen. Da die Sozialliberalen die Regierungsverantwortung nach ihrer neuerlichen Wahlniederlage nicht mehr übernehmen wollten, mußte

Krag ein Minderheitskabinett bilden. Die bürgerliche Opposition — 36 Konservative, 38 liberale Venstre und fünf Unabhängige — wären mit 79 von 175 Mandaten ebenfalls in der Minderheit gewesen, der Auftrag des Königs ging deshalb folgerichtig an die stärkste Partei. Bei Aufträgen zur Regierungsbildung ist es in Dänemark Gepflogenheit, die stärkste Fraktion zuerst zu berücksichtigen, ohne Rücksicht darauf, ob diese ein oder einige Mandate verloren hat. Die bürgerlichen Mittelparteien — als eine solche kann die Partei der Konservativen betrachtet werden — hätten es übrigens schwer gehabt, mit den Unabhängigen zusammen zu regieren. Krag bekam von neuem eine Chance, und hofft natürlich auf die weitere Unterstützung durch die Sozialliberalen. Sehr wenige Beobachter glauben jedoch in Dänemark daran, daß diese Regierung sehr lange wird regieren können. Der größte Vorteil der Regierungsposition in Dänemark dürfte heute darin liegen, den Zeitpunkt der nächsten Wahlen bestimmen zu dürfen!

In Schweden entstand nach dem 20. September eine völlig unklare und verwirrende Situation. Ziemlich unerwartet hatten die Sozialdemokraten nach der Zählung der Wahlnacht zu ihren 114 Mandaten in der Zweiten Kammer des Parlamentes noch drei weitere und damit die absolute Majorität gewonnen. Da sie eine solche auch in der Ersten Kammer besitzen, schien die Regierung Erlander sicherer im Sattel zu sitzen als jemals zuvor. Dazu kam noch eine Erhöhung der kommunistischen Mandate von fünf auf acht.

Voreilige Kommentatoren

Voreilige Kommentatoren übersahen, daß etwa 185.000 Poststimmen noch nicht berücksichtigt waren, daß diese Stimmen seit jeher die Position der Rechtsparteien fühlbar verbessert hatten und daß so manches Mandat in Schweden mit einem ganz geringen Stimmenüberhang gewonnen worden war. Das schließliche Ergebnis brachte dann auch den Konservativen 32 Mandate (— 7), den Liberalen 42 Mandate (+ 2), der Centerpartei 35 (+ 1), den Sozialdemokraten 113 (— 1) und den Kommunisten 8 (+ 3) Mandate. Berücksichtigt man die auf der Liste der „Bürgerlichen Sammlung“ gewählten drei Mandate, dann erhöht sich die Mandatszahl der bürgerlichen Parteien noch um je einen Sitz, Die klaren Gewinner sind die zwei bürgerlichen Mittelparteien, die gegenüber 1960 um fünf Mandate mehr haben! Das Stimmenverhältnis in der Zweiten Kammer ist 112 zu 113 zugunsten der Arbeiterpartei, die also eine Minderheitsregierung, ähnlich wie in Dänemark, bilden wird. Anstatt der sozialdemokratischen Mehrheit von 191 zu 192 bei den gemeinsamen Abstimmungen der beiden Kammern wird es nun dort eine oppositionelle Mehrheit von 193 zu 191 geben. Erlander wird also gezwungen sein, auf die Abstimmungshilfe der Kommunisten zu rechnen — auf die er früher überhaupt keine Rücksicht zu nehmen brauchte! —, während gleichzeitig die Arbeiterpartei sich dazu gedrängt sieht, ihre Politik zu radikalisieren, um nicht ein weiteres Abbröckeln ihres linken Flügels zu den Kommunisten zu erleben.

Der Positionsverlust der Sozialdemokratie dürfte in erster Linie dem Umstand zu verdanken sein, daß man die fortgehenden Preissteigerungen und Erhöhungen der verschiedenen Tarife bei Bahn, Post und Telephon allzu leicht genommen hat, in einem Jahr, in dem die Arbeitnehmer fast keine Verstärkung ihrer Einkommen erzielen konnten. Die Löhne der Industriearbeiter stiegen in den zwölf Monaten vor dem 1. Juli 1964 von durchschnittlich 7,06 Kronen auf 7,38, das ist um etwa 4,5 Prozent (wovon jedoch etwa ein Drittel auf die Marginalsteuer entfallen). Die Lebensmittelpreise erhöhten sich in derselben Zeit von der Indexzahl 204 auf die Indexzahl 211. Die Wohnungskosten stiegen von 162 auf 173, also um fast sieben Prozent. Das ist eine Entwicklung, die jeder Arbeiter und jede Hausfrau spürt. Es ist begreiflich, daß die Kommunisten diese Situation auswerteten. Das bemerkenswerteste Ergebnis dieser Wahl ist zweifellos gerade die Verstärkung der kommunistischen Fraktion, die nun in beiden Kammern und bei den wichtigen gemeinsamen Abstimmungen eine Schlüsselstellung einnimmt. Die sozialdemokratische Selbstkritik nach den Wahlen ist bisher nur so weit gekommen, daß sie radikalere Töne bei der Propagierung der Ziele der Partei fordert, eine stärkere Berücksichtigung der Preisentwicklung und eine Verhinderung des Wuchers mit den Bodenpreisen, der ebenfalls in der kommunistischen Propaganda eine Rolle gespielt hat.

Ein neuer Radikalismus?

Die Unruhe und Unsicherheit, die viele führende Sozialdemokraten erfaßt hat, geht ziemlich deutlich aus einem Leitartikel des sozialdemokratischen „Aftonbladet“ hervor, der bereits wenige Stunden nach der Wahl geschrieben wurde, also zu einem Zeitpunkt, da man noch 117 anstatt 113 Mandate hatte:

„Diese Wahl sollte der Partei zwei Warnungssignale geben. Das eine lautet, daß man nicht einfach an einen aufwärtsgehenden ,Trend' glauben sollte, an die Zuversicht, ,daß schon alles gut gehen wird'! Das zweite gilt der Politik der Regierung, die begreifen muß, daß Dynamik und ein Streben nach Weiterentwicklung sowohl für die Demokratie als auch für die Vitalität der Partei notwendig sind. Wir brauchen eine Erneuerung unseres ganzen Parteisystems, das den Wählern klarere Alternativen geben kann. Vielleicht müssen wir in der ganzen Verfassungsfrage von Grund auf umdenken und begreifen, daß Halbheiten und eigentümliche Konstruktionen nicht ausreichend sind und eine bedeutend radikalere Kursänderung notwendig ist!“

Damit ist zweifellos gemeint, daß man der Arbeiterpartei ein wirklich „neues, kühnes Ziel“ — so lautete die Parole des letzten Parteitages — geben sollte, und hier wird nichts anderes als die Frage „Monarchie oder Republik“ gestellt werden können!

Zug zur Mitte

Die Kommunalwahlen in einigen Bezirken Norwegens wurden im Schatten dieser Parlamentswahlen und der Wahlen in zwei deutschen Teilstaaten kaum beachtet. Und doch deutete auch ihr Ergebnis auf eine Verstärkung der bürgerlichen Mitte und eine Schwächung der Arbeiterpartei hin. Das Wahlergebnis in 39 der neugebildeten Großkommunen sah so auch, daß die Christlich demokratische Partei ihren Wähleranteil um 1,6 Prozent erhöhte, die Konservativen erhöhten um 0,4 Prozent, die liberale Venstre um 1,7 Prozent und die Centerpartei um

3.6 Prozent. Die lokalen Listen verminderten ihren Anteil von 10,4 auf

6.6 Prozent, und die Arbeiterpartei verlor gut vier Prozent ihrer früheren Stimmenanzahl. Kommunisten und Volkssozialisten konnten leicht erhöhen. „Wir hatten nicht erwartet,

daß der Rückschlag für uns so groß werden würde“, sagte Staatsminister Erhardsen.

Wenn auch lokale Fragen bei solchen Wahlen eine große Rolle spielen, so ist doch auch hier ein unverkennbarer Zug zur Mitte erkennbar. In Dänemark ernteten die Konservativen, in Schweden und Norwegen die Zentrumsparteien, die in beiden Ländern mit den Liberalen Zusammenarbeiten. Hier werden auch Konzentrationsbestrebungen erkennbar, die möglicherweise schon bei den nächsten Wahlen einen mehr sichtbaren Ausdruck finden werden. Für die Arbeiterparteien in allen drei Ländern wird es von großer Wichtigkeit sein, ob sie bis dorthin aus ihrer jetzigen Situation der Unsicherheit und schwächlichen Kompromisse wirklich zu einer Politik der „neuen, kühnen Ziele“ finden werden!

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