Solidarität, die 4500 Kilometer weit reicht

Werbung
Werbung
Werbung

Eine Preisverleihung wie ein Liebesgedicht. Mit Standing Ovations haben am Mittwoch dieser Woche die Abgeordneten des Europaparlaments den Sacharow-Preis für geistige Freiheit an den ukrainischen Filmregisseur Oleg Senzow verliehen. Es war, als ob Erich Fried die Choreographie geschrieben hätte: "Es ist Unsinn/sagt die Vernunft", heißt es in seinem Gedicht "Was es ist", und er zählt darin noch weitere No-go-Beispiele auf: "Es ist aussichtslos/sagt die Einsicht" und "Es ist unmöglich/sagt die Erfahrung". Fried hält dem "Geht nicht!" das "Es ist was es ist/sagt die Liebe" entgegen. Auf politischer Ebene heißt Liebe Solidarität. Mit der Wahl von Oleg Senzow zum Preisträger kehrt das EP zu den Wurzeln des Menschenrechtspreises zurück. Nicht nur geographisch, sondern auch was Anspruch und Intention anbelangt: Es ist kein Unsinn, es ist nicht aussichtslos, und es ist nicht unmöglich, sagt das EP mit dieser politischen Lyrik.

1988 wurde der Preis eingeführt: Erst zwei Jahre vorher war die Verbannung des Sowjet-Dissidenten und Friedensnobelpreisträgers Andrei Sacharow und seiner Frau Jelena Bonner aufgehoben worden. Im Jahr darauf wird der Eiserne Vorhang fallen, das Unmögliche passieren. 1988 verlieh das Europaparlament den ersten Sacharow-Preis an Nelson Mandela. 1990 wird Mandela nach 27 Jahren als politischer Gefangener freigelassen. Wie war das noch mal mit unmöglich, mit unsinnig, mit aussichtslos?

Im Hochsicherheitsgefängnis

Als ihm am Mittwoch zu Mittag in Straßburg der Sacharow-Preis in Abwesenheit verliehen wurde, war es bei Oleg Senzow 16 Uhr. 4500 Kilometer liegen zwischen dem Europaparlament und dem Hochsicherheitsgefängnis im sibirischen Labytnangi, in dem Senzow seit über vier Jahren eingesperrt ist. Welche Gedanken sind ihm an diesem Tag, zu dieser Stunde gekommen? Hat ihn der Applaus erreicht? Hat ihn die Solidarität bewegt? Sein Anwalt, Dmitriy Dinze, antwortete auf die Frage verhalten: "Es freut ihn natürlich", sagte er, "aber Oleg zeigt generell nur mehr wenige Emotionen. Trotzdem ist er nach wie vor ein lebendiger Mensch. Für ihn ist das Wichtigste, dass auch die anderen ukrainischen Gefangenen in Russland nicht vergessen werden."

Das ist der Grund, weshalb Senzow nach wie vor in Haft ist. Mit seiner Solidarität gegenüber allen rund 70 ukrainischen politischen Gefangenen in Russland ist er zu einem Freiheits-Symbol aufgestiegen. Nur so erklärt sich die Härte, die Unnachgiebigkeit, die Ignoranz der russischen Führung gegenüber einem ukrainischen Filmemacher, dessen Filme "fast niemand gesehen hat", wie eine Sprecherin des russischen Außenministeriums die Verleihung des Sacharow-Preises an Senzow kommentierte und als "vollkommen politisierte Entscheidung" kritisierte.

Sie hat Recht damit: Der Sacharow-Preis ist kein Kunstpreis. Mit der Auszeichnung wird Senzows "Mut und die Entschlossenheit" gewürdigt, begründete Parlamentspräsident Antonio Tajani die Entscheidung und wiederholte die Forderung, Senzow unverzüglich freizulassen.

Zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt wurde Senzow, da er auf der Krim Terroranschläge gegen die russische De facto-Regierung geplant haben soll. Amnesty hat das Verfahren als "extrem zynischen Schauprozess" kritisiert. Im Mai trat Senzow in einen 145-tägigen Hungerstreik, um die Freilassung aller ukrainischen politischen Gefangenen in Russland durchzusetzen. Nachdem ihm Zwangsernährung angedroht wurde, brach er seinen Hungerstreik ab, sein Gesundheitszustand war und ist sehr kritisch.

Andrei Sacharow und andere politische Häftlinge seiner Zeit verwendeten ebenfalls den Hungerstreik als Druckmittel gegen das Sowjetregime: Am 30. Oktober 1974 informierte er ausländische Journalisten darüber. An diesem Tag wird seit 1991 gemäß dem Erlass des Obersten Sowjets in Russland der "Tag der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen" begangen. Eine Chuzpe angesichts der politischen Verfolgungen im heutigen Russland. Aber auch eine Mahnung, wie schnell es gehen kann - in die eine und die andere Richtung: In die Unfreiheit, in die Freiheit. Und dass es ein Unmöglich nicht gibt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung